Unnachgiebigkeit im Kampf gegen Extremismus gelobt. London feiert zweifache Mutter nach Terroranschlag als Heldin

London. Der Anblick ist furchterregend. Zwei Männer stehen auf einer Straße im Südwesten Londons, mit blutverschmierten Händen, sie halten noch Fleischerbeil und Messer, mit denen sie kurz zuvor einen jungen Mann abgeschlachtet haben. Mitten auf der Straße liegt die Leiche. Die beiden offensichtlichen Täter gestikulieren wild und rufen islamistische Propaganda. Doch statt wegzulaufen, geht eine Frau mit Pferdeschwanz, in schwarzer Jeans und Weste, auf die Männer zu und spricht sie an. Ingrid Loyau-Kennet war auf dem Weg zum Victoria-Bahnhof, um dort ihre zwei Kinder zu treffen. Stattdessen verwickelt sie nun die beiden Männer nacheinander in Gespräche, offenbar in der Absicht, sie zu beruhigen und von weiteren Taten abzuhalten. Loyau-Kennet war in ihrer Jugend Anführerin der Cub Scouts gewesen, dem Mädchenarm der Boy Scouts, und war offenbar geübt in ruhiger Abschätzung von Krisenlagen.

„Was wollt ihr?“, fragte Loyau-Kennet den wilder auftretenden der beiden. „Krieg führen in London“, so dessen Antwort. Darauf die 48-Jährige: „Ihr werdet verlieren. Ihr seid nur zu zweit gegen viele.“ Premierminister David Cameron pries die Frau am Donnerstag in seinem Statement vor der Downing Street ob ihres Mutes und sagte, ihren Dialog zitierend: „Sie sprach für uns alle.“ In einem Gespräch mit dem „Guardian“ ergänzte Loyau-Kennet später, sie habe sich nicht gefürchtet, da der erste Mann, mit dem sie sprach, nicht betrunken gewesen sei oder unter Drogeneinfluss gestanden habe.

Erste Ermittlungen der Londoner Polizei nach dem brutalen Mord an einem nicht uniformierten britischen Soldaten am Mittwochnachmittag haben inzwischen die Identität des wilderen der beiden Täter ans Licht gebracht: Es handelt sich um einen Briten nigerianischer Herkunft, mit Namen Michael Adebolajo. Er hatte sich vor zehn Jahren der inzwischen verbotenen islamischen Sekte al-Muhajiroun angeschlossen, radikalisierte sich weiter und nahm zeitweilig den Namen „Mujahid“ an, wie der Al-Muhajiroun-Gründer Anjem Choudary bekannt gab. Er habe aber nie Anzeichen der Bereitschaft zu einer fanatischen Tat gezeigt wie der im südwestlichen Londoner Stadtteil Woolwich.

Ohne zu widersprechen griff Cameron in seiner Erklärung Medienberichte auf, denen zufolge die beiden Tatverdächtigen der Polizei bekannt gewesen sein müssen. Die Öffentlichkeit werde „Fragen haben, die beantwortet werden müssen“, fügte er ominös hinzu. Diese Information wird auch dadurch erhärtet, dass die Fahnder am Donnerstag an mehreren Orten in London, Essex und Lincolnshire gezielt Wohnungen durchsuchten, an denen sich Adebolajo in den vergangenen Jahren aufgehalten hatte. Die Täter liegen derweil unter strenger Bewachung in Londoner Krankenhäusern. Einer soll bei dem Schusswechsel, der ihrer Verhaftung vorausging, schwer verletzt worden sein, der andere leicht. Cameron betonte in seiner Rede das Zusammenstehen der britischen Gesellschaft angesichts dieser Untat. „Jede Gemeinschaft in unserem Land teilt diese Ansicht“, sagte er. „Dies war nicht einfach nur ein Angriff auf Großbritannien und den britischen Way of Life, es war auch ein Verrat am Islam und an allen Muslimen, die so viel unserem Land zu geben haben. Nichts im Islam rechtfertigt eine solche wahrhaft grässliche Tat. Deren Ursache liegt allein und ohne Abstriche bei den widerlichen Individuen, die diese erschreckende Attacke verübt haben.“

Das Verbrechen am helllichten Tag hat London und die britische Gesellschaft insgesamt tief erschüttert. Die Umstände der Tat übersteigen alles, was bisher an Gräueln aus dem weltweiten islamistischen Umfeld bekannt geworden ist. Kurz nach 14.00 Uhr hatten zwei Farbige ihren Personenwagen auf den Bürgersteig der viel befahrenen Wilson Street gelenkt, um einen Passanten zu Fall zu bringen. Daraufhin sprangen sie aus ihrem Auto und begannen, wie wild auf den am Boden liegenden Mann einzustechen und ihn mit ihren Waffen, darunter ein Hackbeil wie in Fleischereien üblich, buchstäblich abzuschlachten, begleitet von „Alluha Akbar“-Rufen – „Gott ist groß.“ Viele Passanten, die sahen, wie sich die beiden über ihr Opfer beugten, glaubten zunächst, dort werde ein Verletzter nach einem Verkehrsunfall mit erster Hilfe versorgt. Der Ermordete trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Help for Heroes“, einer wohltätigen Organisation, die sich um in Afghanistan und im Irak verwundete Militärs kümmert.

Für erhöhte Publicity sorgten die beiden Verbrecher selbst, da sie keine Anstalten machten, den Tatort zu verlassen. Vielmehr forderten sie die in einigem Abstand stehenden Zuschauer aufgeregt auf, sie zu fotografieren. Gleichzeitig erging sich der inzwischen als Adebolajo Identifizierte in politischer Propaganda. Aus einem Bus, der gerade zum Halten kam, nahm ein Passagier den Mann in seinem Redefluss auf. „Wir müssen sie bekämpfen, wie sie uns bekämpfen“, schrie er dem ihm filmenden Mann entgegen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Dann trug er eine makabre Entschuldigung vor: „Es tut mir leid, dass auch Frauen heute mit zu Zeugen wurden; aber in unserem Land müssen unsere Frauen solches ebenfalls mit ansehen. Ihr Leute werdet niemals sicher sein. Beseitigt eure Regierung, sie kümmert sich nicht um euch.“ Es dauerte quälende fünfzehn Minuten, bis bewaffnete Einheiten vom Terrordezernat von Scotland Yard eintrafen und schließlich durch gezielte Schüsse die Täter niederstreckten. Beide waren mit Schusswaffen in der Hand auf den Polizeiwagen zugelaufen, woraus sich dann das Feuergefecht entwickelte. In einer nahe gelegenen Schule wurden derweil alle Eingänge verbarrikadiert und den Kindern befohlen, sich auf den Boden zu legen.

Der Mord an dem Soldaten ist seit dem Juli 2005 das erste fundamentalistische Attentat auf britischem Boden. Damals waren 52 Menschen bei mehreren Anschlägen im Londoner U-Bahn- und Busnetz ums Leben gekommen. Wie ernst die Regierung den jüngsten Vorfall nimmt, zeigte sich daran, dass noch am Mittwochabend der „Cobra“ genannte Ministerausschuss zur Behandlung von Terrorvorfällen zusammentrat. Inzwischen konzentrieren sich alle Erwartungen auf die Frage, ob es sich bei den Tätern um wahnwitzige Einzelne handelt, oder ob doch noch ein Netz von Mitwissern und Komplizen aufzudecken sein wird.