Israelische Regierungskommission bewertet TV-Reportage als „substanzlos“. Palästinensischer Kameramann: „Ich kann bestätigen, dass das Kind mit Absicht und kaltblütig von der israelischen Armee erschossen wurde.“

Hamburg/Jerusalem. Selten hat ein Foto in der an bedrückenden Momenten so reichen Geschichte des Nahen Ostens eine derartige Wirkmächtigkeit entfaltet. Das Bild vom 30. September des Jahres 2000 zeigt den Palästinenser Jamal al-Dura, der sich, hinter einer Betonröhre nahe Gaza kauern, inmitten eines heftigen Feuergefechtes bemüht, seinen zwölfjährigen Sohn Mohammed vor Kugeln zu schützen. Das Bild stammt aus einem Report des französischen Fernsehsenders France 2, im dem dann auch das angebliche Ende des Dramas geschildert wurde: Jamal wurde demnach von etwa neun Kugeln schwer verwundet, sein Sohn von bis zu fünf Geschossen tödlich getroffen. Der palästinensische Kameramann Abu Rahman sagte später: „Ich kann bestätigen, dass das Kind mit Absicht und kaltblütig von der israelischen Armee erschossen wurde“.

Das Foto ging um die Welt und fachte die zweite Intifada blutig an; Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden berief sich auf den kleinen Mohammed in einer Warnung an US-Präsident George W. Bush. In arabischen Staaten wurden Plätze und Straßen nach dem Jungen benannt, sein Bild zierte Briefmarken.

Schon mehrfach wurden ernsthafte Zweifel an der Darstellung Rahmans geäußert, doch nun hat eine israelische Untersuchungskommission nach aufwendigen Recherchen jede Mitverantwortung Israels am Tod des Palästinenserjungen zurückgewiesen. Der Bericht von France 2 sei „substanzlos“, heißt es in einer Analyse des Ministeriums für internationale Beziehungen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach von einem „Sieg der Wahrheit.“

Zunächst hatte die israelische Armee damals eingeräumt, dass Kugeln aus der Richtung ihres Postens nahe der jüdischen Siedlung Netzarim, an der „Kreuzung der Märtyrer“, gekommen sein könnten. Doch nun ist in dem 40 Seiten starken Bericht von „zahlreichen Hinweisen“ die Rede, dass weder der Junge noch sein Vater überhaupt von Kugeln getroffen worden seien. Ballistischen Untersuchungen nach sei es auch „extrem zweifelhaft“, dass Einschusslöcher in der Betonwand hinter den beiden von israelischen Soldaten verursacht wurden. Bereits 2008 hatte der angesehene Physiker Nahum Schahaf nach jahrelangen Analysen erklärt, der Tod des Kindes sei eine Lüge. So sagten Ärzte des Al-Shifa-Hospitals in Gaza aus, ein toter Junge sei gegen zehn oder elf Uhr eingeliefert worden – die Schießerei fand aber erst gegen 14.30 Uhr statt. Fotovergleiche dieses Jungen mit Mohammed al-Dura ergaben, dass es sich nicht um dasselbe Kind handelte. Zu diesem Ergebnis kam auch der deutsche Biometriker Kurt Kindermann. Es gibt Mutmaßungen, dass es sich um Mohammeds Vetter Rahmi handelte, der bei anderer Gelegenheit ums Leben kam.

Kein Tropfen Blut zu sehen – trotz angeblich schwerster Verletzungen

Narben, die der Vater später präsentierte, stammten nach Angaben seines Arztes von früheren Eingriffen nach einem Überfall durch Hamas-Aktivisten. Zudem ist auf den Film-Aufnahmen kein Tropfen Blut zu erkennen – obwohl beide Personen schwerste Verletzungen erlitten haben sollen. So soll der Bauch des Jungen palästinensischen Berichten nach 20 Zentimeter weit aufgerissen und sämtliche Organe zerfetzt gewesen sein. Abu Rahman drehte 27 Minuten lang, davon wurden aber nur 59 Sekunden gesendet. Auf dem weggeschnittenen Material soll zu sehen sein, wie der angeblich tote Junge dreimal seine Körperhaltung ändert und die Hand vom Gesicht nimmt. der Redakteur der Sendung, der in Paris geborene Israeli Charles Enderlin, sagte, man habe dem Zuschauer den „Todeskampf“ des Jungen ersparen wollen.

Die ballistischen Analysen ergaben, dass die Schüsse in die Betonmauer aus einem Winkel von 90 Grad abgegeben wurden. Der israelische Posten – „Magen 3" – stand jedoch in einem Winkel von 43 Grad zu der Mauer und den beiden Personen davor. Diagonal zu dem Armee-Posten befand sich eine Stellung der palästinensischen Polizei unter Brigadegeneral Osama al-Ali.

Der französische Medienbeobachter Philippe Karsenty war von France 2 verklagt worden, nachdem er behauptet hatte, das Video sei eine Fälschung. Er wurde verurteilt, aber ein Berufungsgericht in Paris gab Karsenty recht und erklärte, Abu Rahman sei nicht sehr glaubwürdig und einige Szenen wirkten gestellt. Dieses Urteil kassierte dann aber der Oberste Gerichtshof und wies den Fall an das Berufungsgericht zurück. Die Sache wird zum Teil in sehr hässlichem Stil ausgetragen – so war sich der Anwalt von France 2, François Szpiner, nicht zu schade, zu erklären, Karsenty sei „ein Jude, der einen zweiten Juden bezahlt, der einen dritten Juden bezahlt, um bis zum letzten israelischen Blutstropfen zu kämpfen“.

Palästinenser bezichtigen Israel, es wolle sich mit dem Bericht von Schuld reinwaschen. Das Rätsel um Mohammed al-Dura ist jedenfalls noch immer nicht überzeugend gelöst worden. Es gibt in diesem Fall weiterhin drei mögliche Versionen. Version 1: Israelische Soldaten erschossen das Kind. Version 2: Sein Tod wurde durch palästinensisches Feuer verursacht. Version 3: Der ganze Vorfall wurde von Palästinensern inszeniert; wobei das Schicksal des Jungen ungeklärt bleibt. Bei dieser Version ist denkbar, dass Redakteur Enderlin davon gar keine Kenntnis hatte.