Mit Knöllchen geht Chinas Polizei in Peking gegen die katastrophalen Verhältnisse beim Überqueren von Straßen vor

Peking. Jahrzehnte lernten Pekinger Passanten mit einem Kinderreim, wie sie eine Straße zu überqueren haben: Yi-man, Er-kan, San-tongguo. Das heißt übersetzt: Erstens: Gehe langsam. Zweitens: Schaue dich um. Drittens: Gehe los. Das Heer der Nicht-Autofahrer unter den 23 Millionen Hauptstädtern beweist seither täglich, dass sich die meisten Bürger herzlich wenig darum kümmerten. Ohne Regeln kommen sie zu Fuß, auf dem Fahrrad oder auf Rollerskates viel besser voran. Bei Rot, quer oder im Zickzack erreichen sie die andere Straßenseite. Viele entpuppen sich als Bewegungsartisten, die zwischen den Autokolonnen hin und her hüpfen, wenn sie eine Kreuzung queren. Ihr Motto: „Das Ziel ist alles. Den Weg dazu suchen wir uns selbst.“

Die Hauptstadtbehörden wollen solchem „Anarchismus auf den Straßen“ nun einen Riegel vorschieben. Die Verkehrskommission trat eine neue Kampagne los, die Pekinger Fußgänger und Radfahrer zu „verantwortlichen Verkehrsteilnehmern in einer zivilisierten Weltmetropole“ erziehen soll. Fotoplakate mit dem Symboltier Zebra weisen die Bürger darauf hin, dass sie den gestreiften Übergang auch nutzen sollen. Die Pekinger Jugendzeitung startete eine „Aktion Zebra“ (Banma Xingdong), bei der Freiwillige an Ampelübergängen Zebraschilder und die Aufschrift „Folge mir nach“ hochhalten und auf Grün warten.

Ein Heer von Polizisten schwärmte zugleich am Montag mit Quittungsblöcken bewaffnet aus, um an Ort und Stelle den neuen Regelungen Nachdruck zu verleihen. Sie positionierten sich an 150 Kreuzungen und verteilten Knöllchen an alle Fußgänger in Höhe von zehn Yuan und 20 Yuan (2,20 Euro) an Radfahrer, damit sich alle die drei neuen Verkehrsregeln besser einprägen: Gehe nur bei Grün. Gehe nur geradeaus. Gehe nur über den Zebrastreifen. 294 Verkehrsrüpel seien am ersten Tag erwischt worden, meldeten triumphierend Lokalzeitungen. Es wären mehr gewesen, wenn die meisten nicht Fersengeld gegeben hätten. Die Ertappten aber stritten jede Schuld ab: „Alle machen das. Warum ergreift ihr mich? Diese Ampel hier ist defekt. Sie wird und wird nicht grün.“

Pekings Presse riet der Polizei: „Schnappt euch die Leithammel!“, um den Herdentrieb zu brechen. Alle würden immer nur so lange bei Rot stehenbleiben, „bis der Erste rübergeht, dem sie dann folgen“. Weil das Chaosprinzip im Straßenverkehr ein Massenphänomen ist, erfand der Volksmund auch das passende Wort dafür: In Anspielung auf den Begriff des „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“, der sich Stein um Stein über den Fluss zum anderen Ufer vorantastet und dabei alle ideologischen Grundsätze umgeht, heißt auch die Art und Weise wie ein Pekinger zum gegenüberliegenden Bürgersteig kommt „Straßenüberquerung mit chinesischen Besonderheiten.“

Trotz aller Verkehrsverordnungen, die 1986 aufgestellt und 2004 verschärft wurden, blieb zivilisiertes Fußgängerverhalten die Ausnahme von der Regel. Nach einmonatiger Vorwarnzeit und 20.000 Verwarnungen im April setzten die Behörden nun auf Strafen: „Mit Großzügigkeit ist Schluss.“ Ein Grund seien erschreckende Unfallbilanzen: Unter den 2012 fast 50.000 Verkehrstoten in China starben nach Angaben der Webseite des Verkehrsministeriums 11.000 an Ampelkreuzungen. 50.000 wurden verletzt. Chaospassanten verschlimmerten zudem den Dauerstau, den die 5,3 Millionen Pkws in der Hauptstadt anrichten.

Die neue Verkehrskampagne soll landesweit laufen. Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen, Avantgardistin bei anderen Reformen, machte im Dezember mit einer eigenen Variante den Anfang. Sie führte den grünen Fußgänger-Polizisten ein. Die Behörden lassen dabei allen bei Rot erwischten Fußgängern die Wahl, entweder 20 Yuan Strafe zu zahlen – oder in einem anderen Sinn die Seite zu wechseln. Sie müssten sich eine grüne Weste überziehen und eine halbe Stunde lang der Polizei helfen, Jagd auf Verkehrssünder zu machen.

Anfang des Jahres wurden auch für Autofahrer die Geld- und Punktestrafen drastisch erhöht. Ihre absurde Neuregelung, selbst das Überfahren einer Ampel bei Gelb mit sechs Strafpunkten zu ahnden, löste allerdings einen Massenprotest der Autofahrer aus. Ab zwölf Punkten sind Chinesen den Führerschein los und müssen wieder in die Fahrschule. Pekinger Behörden nerven mit ihren Benimmkampagnen ihre Bürger schon seit den Olympischen Spielen. Zum 11. Februar 2008 etwa führten sie einen Tag des Anstellens ein. Ein Beamter erklärte damals: „Wenn mehr als zwei Personnen auf einen Bus warten, sollen sie sich dazu wie die Zahl 11 hintereinander anstellen.“ Die Bürokratie ordnete dann an, die Ansteh-Kampagne an jedem 11. eines Monats zu wiederholen. Sie ließ erst davon ab, als ihr zugetragen wurde, dass es im November ein Problem geben könnte. In anderen Regionen ist der 11.11 bekanntlich ein Synonym für die Herrschaft der Narren.