Frankreichs Präsident Hollande und Italiens neuer Regierungschef Letta wollen die Kanzlerin umstimmen

Paris. Ein bisschen sah es so aus, als wollten François Hollande und Enrico Letta spontan einen Ringelpiez mit Anfassen aufführen, als sie sich vor den Stufen des Élysée-Palastes beide Hände reichten. Die Atmosphäre zwischen dem neu gewählten italienischen Ministerpräsidenten und dem französischen Präsidenten bei ihrer ersten Begegnung – am Tag der Arbeit – war offenkundig frühlingshaft beschwingt. Hollande und Letta gaben sich einmütig: Um die im südlichen Europa grassierende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, brauche es dringend Wachstum. Das wollen die beiden Regierungschefs Angela Merkel abhandeln.

Hollande war bei seinem ersten größeren Auftritt nach den deutschlandkritischen Eruptionen seiner Genossen in den vergangenen Tagen sichtlich bemüht, nicht gleich den nächsten Eimer Olivenöl ins Feuer zu gießen. Er ließ aber auch wenig Zweifel daran, dass er in Enrico Letta einen Verbündeten sieht, um die Bundeskanzlerin mittelfristig zu einer weniger rigorosen Spar- und einer großzügigeren Ausgabenpolitik zu bewegen. Das steckt hinter einer Bemerkung wie jener, Frankreich und Italien wollten „Europa helfen und Deutschland helfen“, die der großzügige Monsieur Hollande auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Letta machte. Deutschland helfen, seine als „orthodox“ empfundene Positionen aufzugeben, bedeutet das. Denn große Teile der französischen Sozialisten haben es sich nach einem weitgehend erfolgsfreien Jahr an der Regierung in der Weltsicht bequem gemacht, dass Europas Sparpolitik von Angela Merkel diktiert wird, und dies der Grund dafür ist, dass der Aufschwung ausbleibt und die Arbeitslosigkeit explodiert.

Das sagte Hollande so natürlich nicht, doch das war auch nicht nötig, denn genau dies hatte der linke Flügel seiner Genossen in jenem Beschlussentwurf zur Europapolitik festgehalten, der am vergangenen Freitag in die Medien gelangt war. Den „unnachgiebigen Egoismus der Kanzlerin“, die „nur an ihre Außenhandelsbilanzen und den Wahlkampf“ denke, hatte dieses Papier gegeißelt, das in der Parteizentrale der Sozialisten verfasst worden war. In der überarbeiteten Fassung wurde die Bundeskanzlerin dann zwar nicht mehr namentlich erwähnt, stattdessen erklärten die Sozialisten, ein „Europa der Rechten“ bekämpfen zu wollen. Doch dass die Chefin dieses rechten Europas für sie in Berlin sitzt und Hollande mit ihr die „Konfrontation“ suchen müsse, wie der sozialistische Parlamentspräsident Claude Bartolone gefordert hatte, daran ließen die Sozialisten auch nach der Überarbeitung keinen Zweifel.

Hollande bemühte sich nun im Beisein Lettas etwas halbherzig, die Wogen zu glätten. Paris und Berlin müssten „zusammenarbeiten, gleichgültig wie die Konjunkturen, die regierenden Personen oder ihre Empfindlichkeiten sein mögen“, sagte Hollande. Ein flammendes Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft war das nicht. Stattdessen erklärte Hollande nach einem Kompromiss suchen zu wollen zwischen Deutschland und „jenen Ländern, die sich in einer anderen Situation befinden“. Damit meint Hollande vor allem Frankreich und Italien, deren Haushaltsziele „an die Realität des Wachstums angepasst“ werden müssten, wie Hollande es formulierte. Im Klartext bedeutet dies, dass er mehr Zeit will, um die Brüsseler Defizit-Kriterien einzuhalten. Denn das Wachstum ist in Frankreich nahe null.

Kritik an Deutschland entspringe einer „Verweigerung der Wirklichkeit“

Enrico Letta pflichtete Hollande bei, als er sagte, der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sei die absolute Prioriät. Die beschlossene Bankenunion müsse zügig umgesetzt werden, um den Unternehmen zu erlauben, von niedrigen Zinsen zu profitieren. Letta warnte vor den politischen Gefahren, die hinter dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit lauerten: „Wenn Europa von den Bürgern als schlechte Mutter wahrgenommen wird, wird das ein demokratisches Problem verursachen“, sagte Letta. Ob er mit dieser Metapher auf Merkels Spitznamen „Mutti“ anspielen wollte, blieb offen.

Das liberale französische Magazin „Le Point“ setzt derweil auf dem Titelbild Angela Merkel die Krone einer „Königin von Europa“ aufs Haupt und stellt die Schlagzeile „Dieses Deutschland, das die Sozialisten verrückt macht“ darüber. Die „germanophoben Ausbrüche“ der PS seien mit dem Versuch zu erklären, Merkel zum „Sündenbock für französische Misserfolge“ zu erklären. Ins selbe Horn stößt der ehemalige konservative Europa-Minister Laurent Wauquiez, wenn er die Haltung der Sozialisten zu einem „Fall für Psychoanalytiker“ erklärt. „Deutschland liefert das Abbild jener Reformen, die sie selbst nicht zu machen wagen“, glaubt Wauquiez. Anstatt sich jedoch von Deutschland inspirieren zu lassen, verlange man, dass das Vorbild verschwinden solle. Die Kritik an Deutschland entspringe einer „Verweigerung der Wirklichkeit“. Für den Textentwurf, der die Aufregung der letzten Tage auslöste, soll übrigens die PS-Abgeordnete Estelle Grelier verantwortlich gewesen sein, stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für die deutsch-französische Freundschaft in der Nationalversammlung. Greliers Hinweis auf die angeblich „egoistische Unnachgiebigkeit“ der Kanzlerin wurde ersetzt durch unverfänglichere Formulierungen.

Der für die Ausarbeitung des Papiers verantwortliche stellvertretende Parteivorsitzende der PS, Jean-Christophe Cambadélis, würde die ganze Diskussion nun am liebsten rasch beenden. Im letztlich verabschiedeten Text zur Europa-Politik gehe es „um unsere Gegner, und das sind die Konservativen“. Die Kanzlerin zögere zwischen dem Europa ohne Solidarität des Briten David Cameron und der solidarischen Integration Frankreichs, zwischen einem Teil ihrer Wählerschaft, die aus Rentnern bestehe, die nicht für die anderen zahlen wollten, und dem anderen Teil, der aus Angestellten und Unternehmern bestehe, die den Aufschwung wollten, mutmaßt Cambadélis.