Pekings Führung ändert ihre Haltung und verbittet sich weitere Drohgebärden von Pjöngjang. Experte: Diktator Kim will gewaltsame Wiedervereinigung.

Peking. Nordkorea hat seine Vorbereitungen zum Abschuss einer Mittelstreckenrakete des Typs Musudan an seiner Ostküste abgeschlossen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Yonhap bestätigte Südkoreas Außenminister Yun Byung-se am Mittwoch, dass die auf eine mobile Rampe montierte Rakete nach Erkenntnissen der Geheimdienste mit Flüssigtreibstoff betankt und damit „jederzeit“ startklar ist. „Alles hängt jetzt von Nordkorea ab, wohin und wie weit die Rakete fliegt.“

Diese bange Frage treibt alle Akteure des von Nordkorea provozierten Showdowns um, in den am Freitag US-Außenminister John Kerry mitten hineinreist: Er kommt zum Antrittsbesuch nach Seoul, bevor er am Wochenende seine Krisengespräche in Peking fortsetzt. Seoul, Washington und Peking verfolgen, ob Pjöngjang mit seiner 3500 Kilometer weit fliegenden Musudan-Rakete den US-Marinestützpunkt Guam im Pazifik treffen will – oder seine Rakete „nur“ als weitere Drohgebärde testen lässt. Oder ob es sie gar, wie Pekings bekannter Nordkorea-Experte Zhang Liangui befürchtet, zum Teil eines konzertierten Angriffskrieges auf den Süden macht.

Pjöngjang lässt sich alle Optionen offen: Es hat den Abschuss einer Rakete angedroht, ohne einen Zeitpunkt zu nennen – und ohne die bei früheren Tests üblichen Vorabwarnungen für den Schiffs- und Flugverkehr zu erlassen, bestimmte Meeresgebiete zu meiden. US-Zerstörerschiffe stehen zum Abfangen der Rakete bereit, falls sie in Richtung der amerikanischen Marinebasen fliegen sollte. Tokio schützt seine Einwohner durch in der Innenstadt installierte „Patriot“-Abfangraketen.

Auch Südkorea und US-Militärs erhöhten den Alarmstatus für ihr gemeinsames Verteidigungskommando. In Südkorea haben die USA 28.500 Soldaten stationiert. Am Dienstag hatte Nordkorea seine psychologische Kriegsführung verschärft, als es alle in Südkorea lebenden Ausländer aufforderte, zur eigenen Sicherheit das Land zu verlassen. Der Ratschlag folgte auf eine vorher erteilte Warnung an alle Diplomaten in Pjöngjang – unter ihnen befinden sich auch die Mitarbeiter der deutschen Botschaft –, bis zum 10. April Nordkoreas Hauptstadt zu verlassen. Weder in Pjöngjang noch in Seoul kamen die Ausländer den Aufforderungen nach. Im sich weltweit selbst isolierenden Nordkorea halten sich zurzeit 25 Deutsche auf. 20 von ihnen sind Botschaftsangehörige.

Nicht nur in Ostasiens Hauptstädten liegen die Nerven blank, sondern auch in Peking, obwohl sein Territorium nicht in Schussrichtung der Rakete liegt. Chinas Führung war lange der einzige politische Verbündete Nordkoreas. Sie betrachtet inzwischen die irrationalen Kriegsdrohungen von Machthaber Kim Jong-un als größte Gefahr für Stabilität und Frieden in Ostasien seit dem Vietnamkrieg. Chinas neuer Staats- und Parteichef Xi Jinping sprach unverblümt eine Warnung in Richtung Nordkorea aus. Bei der Eröffnung des Boao-Forums auf Hainan sagte Xi: „Niemand darf für seine eigenen selbstsüchtigen Interessen eine Region oder die ganze Welt in Chaos stürzen.“

Auch Außenminister Wang Yi ließ keinen Zweifel, wen er meinte, als er in einem Telefonat mit Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte: „Wir werden nicht zulassen, dass in unserem Vorhof Ärger gemacht wird.“ Wie beunruhigt Peking ist, zeigten am Mittwoch Überschriften auf der Titelseite der millionenfach verbreiteten amtlichen Zeitung „Cankao Xiaoxi“: „Peking setzt alles daran, einen erneuten Krieg auf der koreanischen Halbinsel zu verhindern.“ Auch der Tenor der Leitartikel im populistischen Parteiblatt „Global Times“, das bislang das Kim-Regime in Schutz nahm, hat sich geändert. Am Mittwoch hieß es: „Nordkorea dreht durch.“ Es provoziere eine Krise, für die es kein „Drehbuch gibt“.

Nordkorea-Experte Zhang glaubt indes, dass die Lage schon außer Kontrolle ist. Der hoch angesehene Professor an der Parteihochschule des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei studierte einst in Pjöngjang. Er gilt als einer der besten Kenner der inneren politischen Lage des Nachbarstaates. Er warnt nun öffentlich, dass es mit „sehr hoher“ Wahrscheinlichkeit von bis zu „80 Prozent“ zum Krieg kommt. Zhang sagt, der neue Führer nutze die Krise, um „gewaltsam die Wiedervereinigung“ mit Südkorea zu erzwingen. Er habe dafür wohl die Serie symbolischer Gedenktage im April gewählt. Diese könnte Nordkorea als Anlass für einen Raketenabschuss nehmen. Besonders gehe es um die Zeit um den 15. April herum: den Geburtstag des Staatsgründers Kim Il-sung.

Die erste Generation in der Familiendynastie habe das Land aufgebaut, die zweite unter Sohn Kim Jong-il alles geopfert, um eine mächtige Armee zu schaffen, führte Zhang aus. Der Enkel setze das fort, um die Mission der „Wiedervereinigung“ zu erfüllen. Allen, die daran zweifeln, rate er, die ungewöhnliche Propaganda aufmerksamer zu lesen. Seit Wochen spreche Pjöngjang in einem verräterischen Jargon vom „Heiligen Krieg“, vom „totalen Krieg“ selbst um den Preis des Untergangs.

Seit sich Nordkorea als Atomwaffenmacht versteht, habe es sein Bekenntnis von 1972 zur „friedlichen Wiedervereinigung“ heimlich abgeändert, erklärte Zhang. Seit dem zweiten Atomtest 2009 spreche es nur noch von der „gewaltsamen Wiedervereinigung“. Nach seinem Raketenabschuss und dem dritten Atomtest habe Pjöngjang alle Verträge aufgekündigt, die es zu friedlichem Verhalten verpflichteten, wie etwa den Waffenstillstandsvertrag 1953, so der Nordkorea-Experte: Es kappte alle Kommunikationsverbindungen zu Südkorea und schloss gerade die Sonderwirtschaftszone Kaesong als letzte direkte Verbindung.

Außenstehende könnten sich das Verhalten der Nordkoreaner nicht erklären, betonte Zhang. Den Menschen in Nordkorea sei von klein auf eingebläut worden, dass sie eine der stärksten Militärnationen der Welt seien, die Japan und die USA im Koreakrieg besiegten und jetzt auch noch Atombomben hätten.