Machthaber Assad kündigt eine Großoffensive an. Doch die Rebellen beraten bereits über die Zukunft ohne ihn – und streiten über einen neuen Staat. Eine Reportage aus Aleppo

Aleppo. Wie einst der Prophet Mohammed trägt auch Ali schwarzen Kajal auf den Augenlidern. In der Weste des jungen Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) stecken vier volle Magazine. Mit beiden Händen hält er eine Kalaschnikow. Ali ist einer von rund 50 Kämpfern der Amar-Obno-Hachtab-Brigade, die in einer kleinen Fabrikhalle auf ihren Einsatzbefehl warten. „Wir werden gleich losziehen“, sagt der 22-Jährige entschlossen, „um eine andere Gruppe abzulösen, die die ganze Nacht gekämpft hat.“ Drei Pick-ups brausen plötzlich vorbei, auf deren Ladeflächen sich Kämpfer drängen. „Gott ist groß“, schallt es mehrfach aus allen Kehlen. Die Gewehre werden in die Höhe gereckt.

Als der kleine Konvoi um die nächste Kurve verschwunden ist, erklärt Ali: „Sie sind gleich an der Front.“ Er meint damit das nur zwei Kilometer entfernte Aziza. Diese Kleinstadt am Stadtrand von Aleppo und in unmittelbarer Nähe des Flughafens hatte die syrische Armee in der Nacht zuvor von den Rebellen zurückerobert. Die Soldaten eines Nachschubkonvois aus dem ungefähr 80 Kilometer entfernten Hama hatten diesen strategisch so wichtigen Ort überraschend eingenommen. In Panik waren die Bewohner der umliegenden Dörfer aus ihren Häusern und Wohnungen geflüchtet.

Es war ein Vorstoß mit Vorankündigung. Das syrische Staatsfernsehen hatte eine Großoffensive annonciert und das Regime Textnachrichten an die Rebellen der Freien Syrischen Armee verschickt: „Gebt auf, oder die Armee holt euch!“ Das sollte beweisen, dass die Truppen von Präsident Baschar al-Assad noch fähig und willig sind, die „Terroristen“ an mehreren Fronten gleichzeitig zu bekämpfen. Die Rebellen hatten in den letzten Monaten in Aleppo und in der Umgebung der größten Stadt Syriens zahlreiche militärische Erfolge zu verzeichnen. Mehrere Kasernen und Flughäfen wurden im Norden des Landes erobert. Außer der Einnahme von Aziza ist von der versprochenen Großoffensive bisher nichts zu spüren. Mehrere Kampfjets flogen wiederholt über Aleppo, ohne Bomben oder Raketen abzuwerfen. Zuletzt waren bei einem Luftangriff auf zwei Wohnhäuser im Stadtzentrum am vergangenen Wochenende über 20 Menschen ums Leben gekommen.

„Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein“, meint Aioub, ein junger Oppositionsaktivist. „Aziza hat schon zweimal den Besitzer gewechselt, und die FSA wird es mit Sicherheit zurückholen.“ Von wegen Offensive, das sei alles nur Propaganda eines untergehenden Regimes. „Und man darf nicht vergessen, wir werden von al-Qaida beschützt“, fügt er ironisch lachend hinzu. Zum Beweis zeigt er ein Video mit einem vielleicht fünfjährigen syrischen Kind auf den Schultern seines Vaters, das zur Begeisterung seiner Zuhörer ein Loblied auf Osama Bin Laden singt. „Ich frage mich, was all die ausländischen Extremisten bei uns zu suchen haben“, sagt Aioub verärgert. „Ich habe Libyer, Marokkaner, Tunesier, Pakistaner, Leute aus dem Irak, Saudi-Arabien, ja selbst aus Tschetschenien gesehen. Von den Europäern ganz zu schweigen.“

Die radikalen Islamisten aus dem Ausland werden in Syrien hauptsächlich von drei salafistischen Dschihad-Gruppen aufgenommen. „Diese Radikalen bekommen immer mehr die Oberhand“, meint der 26-jährige Aioub besorgt. Das sei alles nur die Schuld des Westens, der es versäumt habe, rechtzeitig Waffen an die Opposition zu liefern. Nach zwei Jahren Bürgerkrieg, Bomben, Elend und dem Tod von Tausenden von Zivilisten sei es doch kein Wunder, wenn die Dschihadisten mehr und mehr Zulauf bekämen.

Der Ableger von al-Qaida aus dem Irak (Aqi) ist nicht die einzige radikale Islamistengruppe, die großen Zuspruch erhält. Ahrar al-Sham hat sich binnen eines Jahres zu einer der größten und einflussreichsten Organisationen gemausert. Der Arzt al-Hadsch Osman sagt, die Radikalen wollen einen islamischen Staat wie im Iran unter Ajatollah Khomeini errichten, „nur in einer Version für Sunniten“. Osman war von Islamisten verhaftet worden, nachdem er ihre Flagge in seinem Krankenhaus abgenommen hatte. „Der Mann, der sie aufgehängt hatte, behauptete, ich sei mit den Füßen auf ihrem Emblem, das das muslimische Glaubensbekenntnis trägt, herumgetrampelt.“

In Aleppo besorgt die islamistische Gruppe al-Nusra Brot für die Bäckereien, repariert Elektrizitätsleitungen, stellt Verkehrspolizisten, transportiert den Müll ab und hat zahlreiche Industriebetriebe wiedereröffnet, um den Stadtbewohnern Arbeit und Verdienst zu geben. „Sie versuchen, das zivile Leben zu organisieren“, sagt Osman. „Das wird von den Menschen einerseits begrüßt, aber letztendlich nur akzeptiert, weil sie die Macht besitzen.“ Nach dem Fall Assads werde der Aufstieg der Radikalen ein baldiges Ende finden. „Die Menschen in Syrien werden eine neue Diktatur nicht zulassen.“

In Aleppo wurde im Dezember vergangenen Jahres bereits ein neues Gericht ins Leben gerufen. Dort sieht man die Scharia jedoch nicht als universales Werkzeug der Rechtsprechung an. Man hält es mit dem Rechtskodex der Arabischen Liga, gesundem Menschenverstand und Gesetzestexten des alten syrischen Staates. „Das gefällt den Islamisten natürlich nicht“, sagt ein Anwalt, der unerkannt bleiben will. Der Scharia-Rat glaubt, dass bald in ganz Syrien ausnahmslos islamisches Recht gesprochen wird.

Ganz so sicher scheint ein Gottesstaat in Syrien noch nicht zu sein. Im Hauptquartier der Liwa Tawhid gibt ihr Führer Hadsch Marra ein klares Bekenntnis zu einer parlamentarischen Demokratie in einem islamischen Staat ab. „Das syrische Volk muss entscheiden“, sagt Marra in seinem Büro im Keller des Hauptquartiers. „Momentan haben wir noch andere Probleme. Wir haben Krieg.“ Sechsmal wurde seine Basis bombardiert. „Auch jetzt kann jeden Augenblick eine Rakete einschlagen“, sagt er und trinkt einen Schluck Tee.

Ob sein Bekenntnis zur Demokratie ernst gemeint ist, muss sich erst noch herausstellen. Die Liwa Tawhid tanzt auf allen Hochzeiten. Man scheint abzuwarten, wer die Gewinner des Bürgerkriegs sein werden. Die Liwa erkennen den eher säkularen Gerichtshof an, arbeiten mit der Exil-Regierung der nationalen syrischen Allianz SNC in der Türkei zusammen und gleichzeitig sehr eng mit Jabhat al-Nusra und anderen radikalen Islamistengruppen. „Wir haben gegen niemanden etwas“, erklärt Hadsch Marra. Frankreich und Großbritannien haben angekündigt, die Rebellen mit Waffen zu unterstützen. Die Frage ist, wen man aus dem Sammelsurium der Hunderten von Rebellengruppen beliefert.