Tod eines Oppositionspolitikers stürzt das Land in politische Krise. Verwirrung um Regierungsumbildung

Tunis/Paris. Ein strahlendes Vorbild für junge arabische Demokratien abzugeben, das war das Ziel der Tunesier nach der Befreiung von Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali. Kurz nach dem zweiten Jahrestag der Revolution scheint dieser Plan allerdings gefährdeter denn je. Die kaltblütige Ermordung des scharfzüngigen Oppositionspolitikers Chokri Belaïd lässt die Spannungen zwischen Anhängern und Gegnern der von Islamisten angeführten Regierung eskalieren.

Das bei Urlaubern so beliebte Land droht zu einem weiteren Unruheherd in Nordafrika zu werden. Am Donnerstag gab es erneut gewaltsame Proteste. Zur Beerdigung von Belaïd an diesem Freitag ist ein Generalstreik geplant. Das Auswärtige Amt in Berlin hat seine Reisehinweise für das nordafrikanische Land verschärft.

Schuld an der politischen Krise ist nach Meinung des liberalen Bevölkerungsteils vor allem die islamistische Ennahda-Partei um Rachid Ghannouchi. Sie hatte nach ihrem Sieg bei den ersten freien Wahlen im Herbst 2011 eine Koalitionsregierung mit zwei Mitte-Links-Parteien gebildet. Im Laufe der Zeit mehrten sich aber die Zweifel daran, dass die Ennahda wirklich eine moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP ist, wie sie sich stets nach außen hin dargestellt hatte.

Ghannouchi spiele ein falsches Spiel und lasse den Extremisten im eigenen Lager freien Lauf, meinen Kritiker wie der in Frankreich lebende Autor Abdelwahab Meddeb. Sie verweisen auf die zahlreichen Angriffe gegen Regierungsgegner, die es bereits vor der Tötung Belaïds durch Unbekannte gab.

Künstler, Menschenrechtler und Medienleute klagen schon lange. Auf die Ausstrahlung des angeblich gotteslästerlichen Animationsfilms "Persepolis" reagierten Extremisten beispielsweise im vergangenen Jahr mit brutalen Angriffen auf Gebäude des Privatsenders Nessma TV und den Wohnsitz des TV-Kanalchefs. Auch Investoren machen mittlerweile einen Bogen um das einst so westlich wirkende Urlauberland am Mittelmeer.

Ennahda-Führer Ghannouchi sieht dies als Beweis dafür, dass der Mord an dem Regierungskritiker Belaïd keineswegs im Interesse der Regierung gewesen sein könne. Hinter dem Attentat steckten Gegner der Revolution, sagte er in einem TV-Interview. "Diejenigen, die nicht wollen, dass sich das Land weiterentwickelt und in Richtung demokratischer Wahlen geht." Zu der von seinem Parteifreund Hamadi Jebali vorgeschlagenen Bildung einer neuen Regierung mit parteilosen Experten äußerte sich Ghannouchi zunächst nicht. Andere Ennahda-Politiker hatten öffentlich behauptet, der Vorschlag sei nicht abgesprochen und deswegen hinfällig. Sie wollen sich von den Demonstranten nicht erpressen lassen.

Ausländische politische Beobachter sehen die Lage mittlerweile mit großer Besorgnis. "Die sogenannte regierende Troika scheint paralysiert und überrannt von den Ereignissen", kommentierte Hardy Ostry von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis. Der Transformationsprozess, der mit den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im Jahr 2011 begonnen habe, sei seit Oktober vergangenen Jahres kaum mehr existent. Und die Gefahr für die gesamte Region ist nicht zu unterschätzen. Nach der Ermordung von Belaïd sorgt auch in Ägypten eine Todesdrohung gegen Regierungsgegner für Wirbel. Die wichtigste Institution des sunnitischen Islam, al-Azhar, verurteilte die Äußerung eines prominenten Salafisten, dass die Oppositionsführer Mohammed el-Baradei und Hamdien Sabahi wegen umstürzlerischer Aktivitäten nach islamischem Recht den Tod verdient hätten. Doch es gibt auch Hoffnung. Manch Tunesier fragt sich nun, ob Chokri Belaïd zu einer ähnlichen Symbolfigur wie Mohamed Bouazizi werden könnte. Der junge Straßenhändler hatte im Dezember 2010 mit seiner Selbstverbrennung Massenproteste und Unruhen ausgelöst. Die Verzweiflungstat rüttelte Hunderttausende Tunesier auf und führte am 14. Januar 2011 zur Flucht von Diktator Ben Ali.