Beim Referendum gibt es mit prognostizierten 59 Prozent nur eine knappe Mehrheit der Befürworter. Wird der Machtkampf fortdauern?

Istanbul/Kairo. In Kairo kamen die Wähler in Scharen, um beim Verfassungsreferendum am Sonnabend ihre Stimme abzugeben. Die Muslimbruderschaft freute sich über die hohe Beteiligung. Doch erste inoffizielle Ergebnisse am Sonntag zeigen: Die Mehrheit der Menschen hier ist – entgegen dem landesweiten Trend – klar gegen den maßgeblich von Muslimbrüdern und Salafisten erarbeiteten Entwurf, der dem bevölkerungsreichsten arabischen Land einen noch religiöseren Anstrich geben soll. Nach Prognosen bieten mehr als die Hälfte der Wähler dem islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi in der Hauptstadt die Stirn.

Und nicht nur hier: Auch in der Provinz Gharbija, wo die traditionell aufmüpfige Arbeiterstadt Mahalla al-Kubra mit ihrer Textilindustrie liegt, stimmten die Wähler mehrheitlich mit Nein. Die übrigen acht Provinzen hingegen billigten den Entwurf zur ersten Verfassung des Landes seit dem Sturz von Ex-Präsident Husni Mubarak vor fast zwei Jahren mit zum Teil sehr deutlicher Mehrheit. Das Land ist gespalten.

Mursi hatte auf deutlichere Mehrheit gehofft

Beim Wahlauftakt hatte Mursi – der aus der Muslimbruderschaft stammt – sich wohl eine deutlichere Mehrheit erhofft. Denn die braucht er, um den Machtkampf zwischen ihm und der Opposition zu entscheiden. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Nach ersten Prognosen waren in der ersten Runde des Referendums nur etwa 57 Prozent der Wähler für den Entwurf.

Der Präsident war am Sonnabend als einer der ersten zur Abstimmung nahe seinem Amtssitz im Kairoer Stadtteil Heliopolis erschienen. In dem Bezirk mit seinen Villen und Regierungsbauten hat auch Mubarak schon gewählt. Neben Linken und Liberalen stellen sich auch dessen Anhänger – im Alltag meist im Hintergrund – gegen Mursi. Das hatten sie schon bei der Präsidentenwahl getan, bei der Mursi sich mit einem nur leichten Vorsprung gegen seinen Konkurrenten Ahmed Schafik, einen Mann des alten Regimes, durchsetzen konnte.

Im Stadtteil Abbassija, wo die koptisch-orthodoxe Kirche ihren Hauptsitz hat, gab Papst Tawadros II. seine Stimme ab, dessen Gemeinde die Islamisten fürchtet. Die christliche Minderheit sieht sich durch den Verfassungsentwurf massiv bedroht. Trotzdem machte der Koptenpapst seiner Gemeinde keine Vorgaben zur Abstimmung. Nur teilnehmen am Referendum sollten seine Schäfchen unbedingt, hatte er im Vorfeld gemahnt.

In 17 Provinzen wird noch gewählt

Am 22. Dezember geht das Referendum in die zweite Runde, die restlichen 17 Provinzen sollen dann nachziehen. Insgesamt sind 51 Millionen stimmberechtigte Ägypter registriert. Wie die Abstimmung ausgeht, wird sich in gut einer Woche zeigen, wenn es die offiziellen Ergebnisse gibt. Viele Menschen denken aber so wie Mustafa Ahmed, der im Kairoer Stadtteil Sajjida Seinab seine Stimme abgab. „Ich will Stabilität und Wohlstand“, sagte der 40-Jährige. „Und die neue Verfassung wird das garantieren.“

Naier el-Gindi wählte in Garden City und war anderer Meinung. „Mursi will mein Leben und meine Familie kontrollieren. Ich ziehe Freiheit der Kontrolle vor.“

Dass das Verfassungsreferendum den Machtkampf um die Zukunft Ägyptens beenden wird, ist unwahrscheinlich. Denn das Volk ist – wie die ersten Prognosen zeigen – in seinen Vorstellungen darüber entzweit. Die Opposition befürchtet, dass künftig das islamische Recht, die Scharia, in alle Lebensbereiche wirkt und die Gelehrten des Al-Azhar-Islam-Instituts zu einer vierten Macht werden. Mehr Scharia und weniger Staat wünschen sich wiederum viele Anhänger Mursis. Für so manchen von ihnen ist es eine Abstimmung für oder gegen den Islam. Der Konflikt könnte daher erneut eskalieren – und die Angst vor einem Bürgerkrieg wieder wachsen lassen.