Viele Abgeordnete schwänzen die Debatte um die 27. Regierungserklärung der Kanzlerin zur Krise . Nächste Griechenland-Tranche bewilligt.

Berlin. Es ist kurz vor zehn Uhr morgens, als sich auf der Regierungsbank im Reichstag eine Weltpremiere zu ereignen droht. Angela Merkel scheint ins Leere zu blicken, einige Minuten schon, während der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel redet und redet. Der Kopf der Kanzlerin neigt sich ganz kurz verdächtig nach vorn, ihre Augen scheinen für einen Moment geschlossen, sie wird doch wohl nicht ...? Nein. Im letzten Moment macht die Kanzlerin die Augen wieder auf: Merkel, die in Europa gerade für ihre Konstitution in Nachsitzungen gefürchtet ist, hat auch diese morgendliche Debatte nach ihrer Regierungserklärung überstanden, ohne einzuschlafen.

Europa mag wichtig und teuer sein und neuerdings auch den Friedensnobelpreis haben, aber an diesem Morgen im Bundestag macht es vor allem eins: müde. Sehr müde. Die Hälfte der Abgeordneten ist gleich im Bett oder im Büro geblieben. Nur halb voll ist der Bundestag, als Merkel um 9 Uhr ihre Regierungserklärung abgibt.

Die Abgeordneten sind selbst schuld. Sie haben sich Mitwirkungsrechte bei der Euro-Rettung erstritten, zu denen gehört, dass Merkel vor jedem EU-Gipfel erklären muss, was sie in Brüssel erreichen will. Am Donnerstagabend beginnt der 27. Gipfel seit Beginn der Euro-Krise, es ist also auch die 27. Regierungserklärung, und alle haben schon alles gehört.

Selbst "pflichtgemäß" wäre ein zu euphorisches Adjektiv, um das lethargische Klatschen der Regierungsfraktionen zu beschreiben, und die Opposition rafft sich erst nach 26 Minuten zum ersten Zwischenruf auf. Umweltminister Peter Altmaier hat zwischendurch auf Twitter Boris Becker gegen seine Kritiker verteidigt. Und der ganz hinten allein sitzende Euro-Rebell Peter Gauweiler (CSU) hat sogar aufgehört, mit dem Kopf zu schütteln.

Dabei gab es sogar Neuigkeiten: Erst vor wenigen Stunden haben sich ja die bereits in Brüssel tagenden Finanzminister auf die gemeinsame Bankenaufsicht geeinigt. Der Kompromiss: Nur die großen Institute werden von der Europäischen Zentralbank kontrolliert, Sparkassen und Volksbanken bleiben national überwacht. Das ist ein Punkt für Merkel. Bei der dahinterstehenden Idee, die eigentlich für die Geldpolitik verantwortliche Zentralbank nun auch noch zum Bankenwächter zu machen, ist dennoch vielen nicht wohl.

Merkel kommt wieder wie schon so oft auf die Lohnstückkosten zu sprechen, die in Spanien, Portugal und Griechenland sinken, und das Defizit, das in Irland schon fast abgebaut ist. "Die Mühe ist nicht umsonst. Die Bemühungen zeigen Erfolge." Tatsächlich haben die Eurofinanzminister die nächste Tranche der Notkredite für Griechenland freigegeben. Insgesamt sollen in den kommenden Monaten 49,1 Milliarden Euro an Athen fließen. 34,4 Milliarden Euro sollen noch im Dezember und ohne weitere Auflagen fließen, der Rest dann bei Erreichen bestimmter Meilensteine bis März. Athen hatte am Mittwoch bekannt gegeben, dass Investoren Anleihen im Wert von 31,9 Milliarden Euro zum Marktpreis von 30 bis 40 Prozent des Nennwertes zurückgeben wollen. Von 340 Milliarden Euro Staatsschulden wird Griechenland durch die Einigung mit den Privatgläubigern auf einen Schlag 20 Milliarden los.

Im Bundestag antwortete zunächst die SPD auf Merkel. Aber nicht Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der schon nach einer Stunde die Debatte verlässt. Stattdessen Sigmar Gabriel, sein Vorsitzender. Er zählt 18, 2 Millionen Arbeitslose in Europa und eine Billion Euro neue Schulden: "Sie und ihre konservativen Freunde sind verantwortlich für diese Realitäten", ruft er zornig. Europas Wachstumsschwäche sei Merkels Schuld, weil man sich überall dem Sparen verschrieben habe. "Deutschland setzte niedrige Löhne als Waffen gegen seine Nachbarn ein."

Es ist eine sehr scharfe Kritik, in der Gabriel gleichzeitig Sparanstrengungen und Verschuldung kritisiert, die Durchsuchung bei der Deutschen Bank und angebliche Erhöhung von Kita-Gebühren mit dem Euro vermischt und sich am Ende in eine Polemik gegen die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels vor drei Jahren flüchtet. Als Steinbrück vor wenigen Wochen im Bundestag gegen Merkel antrat, registrierte sie dessen Attacken durchaus zornig. Gabriels Anwürfe hingegen nimmt sie teilnahmslos zur Kenntnis.

Als mit Michael Meister der finanzpolitische Sprecher der Union redet, folgen ihm beim Koalitionspartner FDP von 93 Abgeordneten nur noch sechs. Katrin Göring-Eckardt, die Spitzenkandidatin der Grünen, hält eine Rede, deren rhetorischer Höhepunkt der Satz ist: "Löhne runter, mehr Markt - das ist das kalte Europa, für das sich niemand mehr erwärmen kann." Sie wird von Linken per Zwischenruf mit der Frage konfrontiert, warum sie die Euro-Politik Merkels denn im Parlament mittrage, wenn diese so falsch sei. Darauf antwortet Göring-Eckart mit dem Argument, eine Ablehnung der merkelschen Euro-Rettung wäre "nationale Politik".

Merkel reiste nach der Debatte zum Gipfel nach Brüssel. Weitreichende Reformschritte waren dort nicht geplant. In dem letzten Entwurf für die Schlussfolgerungen des EU-Gipfels finden sich nicht mehr die umstrittenen Pläne, die EU-Ratspräsident Hermann Van Rompuy und die Kommission zunächst angeregt hatten. So hatte etwa Deutschland alle vorgeschlagenen Schritte zu einer Vergemeinschaftung der Schulden abgelehnt. Die anderen EU-Staaten wiederum sind skeptisch, ob sie die von der Bundesregierung geforderte stärkere Verbindlichkeit in der Wirtschaftspolitik mitgehen wollen. Deshalb will man zunächst nur vereinbaren, dass man sich im ersten Halbjahr 2013 darauf verständigt, welche Parameter für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten wichtig sind - und wie es zu nationalen Vereinbarungen mit der EU-Kommission kommen kann.