1942 wurden in Staniza Grigoropolisskaya von den Deutschen etwa 100 Juden ermordet. Unbestattet liegen ihre Überreste seitdem in einer Schlucht. Auch den Leichen von Wehrmachtssoldaten wird keine Beachtung geschenkt

Die Staniza Grigoropolisskaya, eine alte Kosakensiedlung, liegt am rechten Ufer des Flusses Kuban, genau an der Grenze des Krasnodarer und Stawropoler Gebietes im Süden Russlands. Gegründet wurde sie im Jahr 1794 von Zarin Katharina II., um das Kubangebiet gegen Türken und Kaukasier zu verteidigen, und blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Aber manche Seiten ihrer Geschichte müssen noch zu Ende geschrieben werden.

Da wäre vor allem die Geschichte der Judenschlucht (Jewrejskij Jar). Sie sieht nicht anders aus als die vielen anderen Schluchten, die es hier gibt: ein Steilhang mit Bäumen bewachsen, eine schmale Sohle, die im Frühling vom Hochwasser des Flusses überschwemmt wird und sich deshalb jedes Jahr ein paar Zentimeter tiefer in den Boden gräbt. Mittlerweile haben die Bewohner der Staniza die Gegend auch als Platz entdeckt, um ihren Müll loszuwerden. Jeder kennt den Weg hierher - und jeder weiß, warum sie so heißt. In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1942 wurden hier 90 bis 100 Juden erschossen. Unter ihnen waren nur wenige Männer, es waren vor allem Frauen und Kinder im Alter von etwa fünf bis 14 Jahren.

"Sie wurden zuerst ins Schulgebäude gebracht, dann wurden sie von Soldaten abgeholt, zur Judenschlucht gebracht und da erschossen", sagt Michail Iwanowitsch Matwienko, der ganz in der Nähe der Schlucht zu Kriegszeiten gewohnt hatte. Im Sommer hatte die deutsche Offensive auf Stalingrad und hier im Süden in Richtung der Erdölfelder von Baku begonnen. Allerdings waren Hitlers Truppen längst in den Bergen des Kaukasus und bei Mosdok, wenige Kilometer vor der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und noch weit von den kaspischen Ölfeldern entfernt, stecken geblieben. Im Hinterland gingen wie in den anderen besetzten Gebieten Einsatzgruppen daran, Juden zusammenzutreiben und zu töten.

Wera Petrowna Nowikowa, eine weitere Zeugin, erzählt: "Ich war bei meiner Nachbarin. Von ihrem Garten aus haben wir ein paar schwarze Autos gesehen, die vorbeigefahren sind. Ein paar Minuten später fielen die Schüsse." Die Menschen mussten sich am Rand der Schlucht - ihres Grabes - aufstellen und fielen nach den Schüssen dann einfach hinunter. Man habe erzählt, dass nicht alle gleich gestorben seien, sondern einige sollen nur verletzt gewesen sein. Sie waren noch am Leben, nachdem sie in die Schlucht gefallen waren. "Die wurden auch nicht richtig begraben, sondern nur verscharrt", erzählt Nowikowa weiter. Eine Woche lang sollen noch Bewegungen im Erdreich zu beobachten gewesen sein. Aber keiner habe helfen können, weil dort ein bewaffneter Wachsoldat stand.

Tatjana Georgiewna Filimonowa, die damals 15 Jahre alt war, berichtet: "Eine Jüdin ist zu uns öfter gekommen, hat für ihre Kinder ab und zu einen Liter Milch gekauft. Mehr konnte sie sich nicht leisten, da sie ganz arm waren. Einmal kam sie zu uns und hat gefragt, ob wir ihre Tochter bei uns auf dem Dachboden verstecken könnten, um sie zu retten. Meine Mutter hat zwar Angst vor den Nazis gehabt, ich habe aber trotzdem zugesagt." Auf dem Dachboden wurde alles für das Versteck vorbereitet. "Aber am nächsten Tag haben wir davon erfahren, dass alle Juden erschossen worden waren. Sie alle waren arm, erschöpft, immer hungrig und haben im Pferdestall der Kolchose gearbeitet und gewohnt."

Die Jahre gingen ins Land, und über die Tragödie aus den Kriegszeiten von Grigoropolisskaya war buchstäblich Gras gewachsen. Aber die stummen Zeugnisse des Geschehens waren nicht verschwunden. Natalia Borisowna Levon war im Jahr 1963 zehn Jahre alt und hat mit anderen Kindern im Wald ganz in der Nähe der Schlucht gespielt. Es war im Frühling, nach der Regenflut: "Wir haben ein paar Mulden entdeckt und sind dann hineingeklettert. Da haben wir ganz viele Knochen gesehen - nicht komplette Skeletten sondern nur Knochen, darunter auch die von den Kindern, mehrere Schädel mit fehlenden Zähnen." Womöglich wurden den Opfern die goldenen Zahnprothesen herausgebrochen. "Vermoderte Kleidungsstücke lagen herum und Schnürstiefelchen von einem Mädchen. Zuerst wussten wir nicht, was dieser schreckliche Fund zu bedeuten hat, erst danach haben unsere Eltern erzählt, dass es eine Judenschlucht war", berichtet Natalia weiter.

Heute ist die Schlucht mit Bäumen bewachsen. Die Erde hat nachgegeben an den Rändern. Aber es ist der Platz geblieben, an dem mehrere Dutzend ermordete Menschen liegen, die noch immer nicht begraben wurden. Anderswo in Europa werden Mahnmale für die ermordeten Juden errichtet oder erinnern "Stolpersteine" an deren frühere Anwesenheit. Aber hier, tief in der russischen Provinz, gibt es kein Denkmal, kein Zeichen, das an die Ereignisse des Jahres 1942 erinnern würde. Der ganze Weg von etwa 500 Metern von der Staniza bis zur Judenschlucht ist zum Müllabladeplatz geworden. Mit jedem Monat gibt es immer mehr Unrat. Und höchstwahrscheinlich wird sich daran auch vorerst nichts ändern. Der Leiter der Verwaltung der Staniza Grigoropolisskaya, Boris Wassiljewitsch Orlow, meint nur lapidar: "Da brauchen wir kein Denkmal und kein Zeichen! Da ist jetzt ein Müllabladeplatz."

Es ist nicht der einzige Ort im Dorf, an dem Tote vergessen wurden. Ab Ende des Jahres 1942, als die 6. Armee in Stalingrad bereits eingeschlossen war und ihrem Untergang entgegenging, musste sich die Wehrmacht auch aus dem Nordkaukasus und bis auf einen Brückenkopf aus dem Kubangebiet unter großen Verlusten zurückziehen. Michail Gawrilowitsch Solowjow, der Vorsitzende des Veteranenrats von Grigoropolisskaya: "Vor ein paar Jahren hat mir eine alte Lehrerin, die leider schon gestorben ist, erzählt, dass die Überreste von deutschen Soldaten neben der Schule gefunden wurden, als hier für die Reparatur der Wasserleitung gegraben wurde. Einer der Soldaten hatte sogar noch eine Erkennungsmarke gehabt." Die Soldaten sind nach Angaben der Einwohner von Grigoropolisskaya bei einem Angriff von Partisanen getötet worden. Auch in ihrem Fall wurde bisher nichts unternommen. Die sterblichen Überreste wurden einfach wieder zugeschüttet. Und jetzt weiß keiner mehr, wo es genau war.

Als einzige Hoffnung bleibt, dass deutsche oder israelische Organisationen, die sich mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigen, sich darum kümmern und den Toten vielleicht helfen, endlich ihre Ruhe zu finden.