Vor genau 50 Jahren erlebte die Welt die gefährlichsten Tage des Kalten Krieges. Um eine Stationierung von sowjetischen Atomraketen auf Kuba zu verhindern, verhängte der US-Präsident eine Blockade. Die 13 Tage der Kuba-Krise begründeten den Kennedy-Mythos

Ernst schaut John F. Kennedy in das halbe Dutzend Kameras. Kein Lächeln huscht über sein Gesicht, die dunklen Ringe unter den Augen sind echt, die Anspannung ist nicht gespielt. "Guten Abend, meine Mitbürger", beginnt der Präsident seine Ansprache im Oval Office des Weißen Hauses: "Diese Regierung hat, wie versprochen, die militärische Aufrüstung der Sowjets auf der Insel Kuba genauestens überwacht. In der vergangenen Woche haben eindeutige Beweise die Tatsache erhärtet, dass gegenwärtig offensive Raketenabschussrampen auf dieser in ein Gefängnis verwandelten Insel vorbereitet werden." Instinktiv macht Kennedy eine ganz kurze Kunstpause, dann fährt er fort: "Der Zweck kann nur sein, eine nukleare Angriffskapazität gegen die westliche Hemisphäre zu schaffen."

Es ist Montagabend, der 22. Oktober 1962, kurz nach 19 Uhr Ortszeit in Washington D.C. Die Kuba-Krise wird öffentlich. Mehr als 40 sowjetische Mittelstreckenraketen vom Typ SS-4 befinden sich bereits auf der Insel; sie können Städte bis nach Washington und Oklahoma City zerstören. Weitere Raketen SS-5 mit noch größerer Reichweite sind auf dem Weg, die bis auf den äußersten Nordwesten alle US-Bundesstaaten bedrohen. Die heißesten Tage während des Kalten Krieges beginnen.

Mehr als 100 Millionen Amerikaner sehen der live von allen drei großen US-Fernsehsendern übertragenen Ansprache zu; noch weit mehr Menschen in der Welt hören Kennedys Worte über Radio. Vorab ist nichts durchgesickert; die US-Zeitungen haben an diesem Morgen lediglich gemeldet, dass eine Ansprache des Präsidenten von "höchster Wichtigkeit" bevorstehe. Das ist nicht übertrieben. Kennedy kündigt an, eine strikte "Quarantäne" zu verhängen. Ab 10 Uhr am 24. Oktober werden Schiffe der US Navy jeden Dampfer Richtung Kuba stoppen, kontrollieren und zurückschicken, sofern Waffen gefunden werden.

Außerdem gibt er erhöhte Alarmbereitschaft für alle US-Truppen bekannt. Dass auch die Atombomber starten, sagt Kennedy zwar nicht. Aber die Zuhörer können das schließen: "Es wird die Politik unseres Landes sein, jeden Abschuss einer Atomrakete von Kuba aus gegen irgendeine Nation der westlichen Hemisphäre als einen Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten anzusehen, der einen umfassenden Vergeltungsschlag gegen die Sowjetunion erfordert."

Kennedys klare Worte lassen Angstschauer um die Welt laufen. Überall in den USA laden Kirchen die Gläubige zu spontanen Friedensgebeten ein. Die folgende Woche hängt die Drohung eines atomaren, also finalen Krieges über der Menschheit. Fast allen Amerikanern und den meisten Westeuropäern ist klar, dass der Präsident es ernst meint.

Anders sehen das kommunistische Funktionäre in den Hauptstädten des Ostblocks. Der Bundesnachrichtendienst (BND) erfährt aus Ost-Berlin: "Immer wieder taucht in den Diskussionen die Vermutung auf, die Hintergründe seien in innenpolitischen Schwierigkeiten des Präsidenten zu suchen. Die Aktion stelle ein groß angelegtes Wahlmanöver dar." Ähnlich werde die Rede in Warschau beurteilt: "Der Schachzug Kennedys müsse auch unter dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Wahlen gesehen werden und sei deshalb nicht so gefährlich."

Zum 50. Jahrestag der Kuba-Krise sind nicht nur bislang streng geheime Berichte des BND erstmals freigegeben worden. Auch das unabhängige Forschungsinstitut National Security Archive an der George Washington University hat Dokumente veröffentlicht, etwa aus dem Nachlass des sowjetischen Spitzenpolitikers Anastas Mikojan. Vielleicht am spannendsten aber ist, dass die John F. Kennedy Presidential Library in Boston mehrere Tausend Blatt bislang gesperrter Unterlagen aus den persönlichen Beständen von Justizminister Robert "Bobby" Kennedy ins Internet gestellt hat.

Die bisherige Sicht stützte sich vor allem einerseits auf Darstellungen aus dem engsten Kreis um den Präsidenten. Der jüngere Bruder des Präsidenten hatte 1967 den erst posthum erschienenen Bestseller "13 Tage" geschrieben. Das Buch war gedacht als Denkmal für den ermordeten John F. Kennedy wie als Material für Bobbys eigene Bewerbung bei der nächsten Wahl. Doch auch er wurde ermordet, im April 1968.

Andererseits wurden seit 1992 mehrfach geheime US-Unterlagen zugänglich, darunter heimliche Mitschnitte von wichtigen Gesprächen im Oval Office und im Kabinettssaal. Demnach waren die USA viel näher an einem Überraschungsangriff auf Kuba, als Bobby Kennedy das eingeräumt hatte.

Mit den jetzt freigegebenen Papieren wird das Bild noch genauer. Zum ersten Mal kann man nachvollziehen, welche Informationen den beiden Kennedys vorlagen, als sie ihre Entscheidung für eine Blockade Kubas trafen. Für Beunruhigung dürfte etwa die knappe Mitteilung eines US-Diplomaten aus Moskau gesorgt haben. Er hatte zufällig bei einem Routinebesuch mitbekommen, dass im sowjetischen Außenministerium in großer Eile Gasmasken verteilt wurden.

Im Ordner für den 22. Oktober 1962 sind mehrere Entwürfe der Fernsehansprache Kennedys enthalten, teilweise mit handschriftlichen Änderungsvorschlägen von Bobby; offenbar hat sich der Präsident daran gehalten. Oder der detaillierte Zeitplan für diesen entscheidenden Tag, den die Berater im freihändig einberufenen, "Executive Commitee" genannten Krisenstab erarbeitet haben. Er kreiste um die "P-Hour", den Zeitpunkt der TV-Ansprache. Genau war aufgeführt, wie viele Stunden vorher die Regierungschefs in Paris, London und Bonn informiert, wann die US Air Force welche Mobilisierungsschritte einleiten sollte und wie internationale Organisationen eingeschaltet werden sollten.

Anastas Mikojan reiste als Sondergesandter des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow unmittelbar nach der Kuba-Krise zu Fidel Castro, um ihn zu beschwichtigen. Mikojans Memoranden zeigen, dass der Revolutionsführer weit aggressiver war als bislang vermutet. Obwohl er eigenen Aussagen zufolge selbst nicht mit einer Invasion der USA rechnete, versuchte er, Zugriff auf die Ende Oktober 1962 bereits einsatzfähigen taktischen Atomwaffen der Roten Armee auf der Insel zu bekommen.

Dazu passen Informationen aus BND-Akten, dass Castro sich bei deutschen Rechtsextremisten um die Lieferung von 4000 Maschinenpistolen bemühte sowie ehemalige Fallschirmjäger-Offiziere der Wehrmacht und Waffen-SS-Männer als Ausbilder anwerben wollte. Offensichtlich versuchte der sprunghafte Kubaner, von der Unterstützung durch Chruschtschow unabhängig zu werden.

Wegen der jetzt bekannt gewordenen Unterlagen muss die Geschichte nicht umgeschrieben werden. Aber es wird deutlich, dass die Krise noch gefährlicher war als bisher angenommen. John F. Kennedy stand der Möglichkeit eines massiven Angriffs offener gegenüber, obwohl er die Schätzung seines obersten Stabschefs kannte, dass eine Invasion Kubas auch ohne den Einsatz von Nuklearwaffen allein in den ersten zehn Tagen bis zu 18 500 tote und verletzte US-Soldaten kosten könnte.

Die Kennedy-Brüder wählten in den entscheidenden 13 Tagen Ende Oktober 1962 den Mittelweg zwischen den beiden Optionen - Überraschungsangriff mit unabsehbaren Folgen oder Verhandlungslösung mit der Gefahr, gegenüber künftigen Erpressungen wehrlos gegenüberzustehen. Die Idee zu einer angekündigten Seeblockade hatte den Unterlagen zufolge Verteidigungsminister Robert McNamara, den Kennedy selbst den "schlauesten Burschen" seiner Regierung nannte. Doch diesen relativ komplizierten Weg durchzusetzen kostete den Präsidenten in den Tagen vor dem 22. Oktober 1962 viel Kraft. Deshalb hatte er dunkle Ringe unter seinen Augen.

Im Rückblick hat sich dieser Weg als richtig erwiesen. Seine Rede vermittelte in Moskau die richtige Botschaft. Chruschtschow knickte nach einiger Verzögerung in der Nacht zum 28. Oktober 1962 ein und zog sämtliche Atomwaffen ab. Castro erwies sich als höchst undankbar, obwohl die Sowjetunion eine seit inzwischen einem halben Jahrhundert bestehende Nichtangriffsgarantie der USA ausgehandelt hatte.

Vor allem aber stärkte das erfolgreich bestandene Kräftemessen mit der Sowjetunion den Präsidenten in den USA und weltweit. Die Verluste der Demokraten bei den Kongresswahl am 6. November 1962 fielen deutlich geringer aus als befürchtet. Die Regierung Kennedy gewann viel politisches Gewicht hinzu, was weitere Erfolge wie das Atomteststopp-Abkommen erst ermöglichte. Für Deutschland besonders wichtig wurde die Rede des Präsidenten im Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus mit der unvergesslichen Formel: "Ich bin ein Berliner!" Die Kuba-Krise, die bislang gefährlichsten Tage der Weltgeschichte, begründeten den Kennedy-Mythos.