Bis zu 18 Monate lang kann die Polizei missliebige Bürger in Arbeitslager stecken. Die Regierung verspricht Reformen des Systems.

Peking. Die Chinesin Lele war elf Jahre alt, als sie auf einer Rollschuhbahn im zentralchinesischen Yongzhou angesprochen wurde - von Zhou Junhui. Die Schülerin folgte dem Mann vertrauensvoll - einem Zuhälter, der sie verschleppte und vergewaltigte. Mit Drogen und brutaler Gewalt zwang er das Mädchen im Bordell seiner Kumpanin Qin Xing zur Prostitution. In drei Monaten wurde sie hundertmal missbraucht. Ihre Eltern schafften es, sie am 30. Dezember 2006 zu befreien. Mutter Tang Hui schwor, die Bordellbetreiberin und die sie deckenden Polizeibeamten zur Strecke zu bringen.

Fünf Jahre lang kämpfte sie dafür. Am 5. Juni 2012 verurteilte ein Gericht die Haupttäterin Qin und den Zuhälter Zhou zum Tode. Die Polizisten kamen mit Verwarnungen davon. Tang konnte es nicht fassen und protestierte heftig. Am 2. August wurde sie selbst von der Polizei festgenommen, weil sie die "öffentliche Ordnung stört". Man wies sie in das Lager Yongzhou ein. Vor Gericht kam sie nicht. Die Polizei war Ankläger und Richter zugleich und setzte Tangs Strafe fest: 18 Monate Laojiao - eine Abkürzung für Chinas berüchtigtes Haftsystem "Umerziehung durch Arbeit". Diese Administrativhaft erlaubt der Staatsmacht, unliebsame Zeitgenossen aller Art ohne Einschaltung der Justiz verschwinden zu lassen.

Das Willkürurteil gegen Tang löste im Internet allerdings eine riesige Welle an Solidaritätsbekundungen aus. "Rettet Tang Hui", hieß es dort. Selbst Parteizeitungen stellten sich hinter Tang. Mit Erfolg: Nach acht Tagen in Arbeitshaft ordneten hochrangige Sicherheitsbehörden die Freilassung Tangs an. Chinesische Journalisten warteten vor dem Lager auf die 39-Jährige, berichtete die Nachrichtenagentur Xinhua. Tang bedankte sich bei ihnen und sagte, dass sie weiter klagen werden, bis auch die beteiligten Polizisten bestraft sind.

So schnell wie Tang kam noch kein Unrechtsopfer in der 55-jährigen Geschichte der Laojiao-Lager wieder frei. 1957 wurden die Sonderhaftanstalten zur Bestrafung von sogenannten leichteren Vergehen als Teil des Gulag-Systems unter Mao Tsetung geschaffen. 1957 wurden die ersten 30 000 Chinesen von den Behörden in Laojiao-Haft eingewiesen. Im Hungerjahr 1960 stieg die Zahl auf einen Rekord von 499 000 Personen. Chinesen, die sich Maos "Großem Sprung nach vorn" widersetzten oder nur etwas zu essen stahlen, landeten im Laojiao. Von den wegen ihrer Kritik an der Partei als "Rechtselemente" nach 1957 politisch verfolgten 550 000 Intellektuellen endeten 480 000 als Arbeitshäftlinge in den Lagern, enthüllte jüngst die Wochenzeitung "Legal Weekly".

Der Fall von Tang Hui stellt nun Chinas Administrativhaft erneut an den Pranger. Kurz vor ihrem 18. Parteitag versucht die KP-Führung jetzt zu verhindern, dass Zeitungskommentare und offene Briefe von Anwälten die hässlichen Seiten ihrer Herrschaft kritisieren. Mutige politische Magazine aber thematisieren sogar in Titelgeschichten, wie polizeistaatliche Willkür Pekings Anspruch, ein Rechtsstaat zu sein, unterläuft. Von 1957 bis zum Jahr 2000, so zitiert der Pekinger Anwalt Wie Rujiu auf seiner Webseite Justizstatistiken, wurden mehr als fünf Millionen Menschen in Sonderhaft eingesperrt. Im Jahr 2000 habe es 310 Laojiao-Lager gegeben. Die September-Ausgabe des Magazins "Nanfengchuan" enthüllt nun, dass es bis 2008 schon wieder 350 Lager waren. In den vergangenen Jahren wurden neben Dieben, aggressiven Bettlern, Prostituierten auch Zehntausende Falungong-Aktivisten und andere religiös Verfolgte Opfer der Administrativhaft. Die Polizei ließ ebenfalls hartnäckige Petitionäre, Umwelt- oder Online-Aktivisten ohne Richterspruch inhaftieren.

Erst gestern verteidigte der Direktor der Zentralkommission für Justizreform, Jiang Wei, das Laojiao-System bei der Vorstellung eines neuen Weißbuchs für Justizreformen. Auf eine Frage der "Welt" sagte er, es sei im sozialistischen Rechtswesen Chinas verankert und spielte eine "wichtige Rolle, um unsere gesellschaftliche Ordnung zu bewahren." Es gebe inzwischen aber einen "gesellschaftlichen Konsens", das Laojiao-System wegen "Problemen mit einigen Regelungen und Bestimmungen" zu reformieren. "Wir sind gerade dabei, konkrete Reformpläne zu prüfen."

Laojiao existiert in einer "Grauzone", gesteht der Vollzugsbeamte Lin Xiao des Jiangsu-Haftlagers in der Zeitung "Global Times" ein. Zur Verurteilung eines "Unruhestifters" reicht ein Polizeibeschluss, der nur von einem vorgesetzten Polizeiausschuss gebilligt werden muss. Chinesische Anwälte nennen das Strafsystem eine "Brutstätte für Fehlurteile". Fälle wie der von Tang waren in der Vergangenheit immer wieder Auslöser für Proteste. Bereits 2003 verlangten 127 Volkskongress-Abgeordnete und ein Jahr darauf 420 Delegierte in 13 verschiedenen Anträgen an Chinas Parlament, die Administrativhaft zu reformieren. Im Jahr 2005 forderten sie, die Laojiao-Haft in eine gesetzlich verankerte Resozialisierungsstrafe zu verwandeln. Chinas Partei ignorierte solche Vorstöße ebenso wie Ende 2007 einen Brief von 69 namhaften Richtern, Anwälten und Rechtsexperten. Sie schrieben darin: Laojiao sei mit keinem Gesetz Chinas vereinbar. Es sei ein Relikt maoistischer Willkürhaft, die sich auch nur gegen das eigene Volk richtet. Eine Sonderregelung von 1992 verbietet es, Ausländer, Auslands-chinesen oder Funktionäre mit Laojiao zu bestrafen.

Trotz der Proteste stecken die Reformen fest, wie sich bei Pilotprojekten in den Städten Nanjing, Lanzhou, Zhengzhou und Jinan zeigt. Seit November 2011 versuchen sie statt "Umerziehung durch Arbeit" ein Haftsystem einzuführen, das die "Korrektur von unrechtmäßigem Verhalten durch Erziehung" zum Ziel hat. Alle Vorschläge, ein auch zivil besetztes Kontrollgremium einzusetzen, wurden bisher abgelehnt. Der Chef der Justizreform-Kommission, Jiang Wie, bestätigte gestern, dass noch nichts spruchreif ist. Die Pilotprojekte hätten "gerade erst begonnen".

Der Widerstand ist nicht nur machtpolitisch motiviert. "Umerziehung durch Arbeit" ist auch ein Geschäft. Nach den Durchführungsbestimmungen für Laojiao-Lager dürfen die Insassen bis maximal sechs Stunden pro Tag arbeiten und hätten Anrecht auf drei Stunden Weiter- und Ausbildung. Die Realität sieht anders aus, schreibt das Magazin "Nanfengchuan". Es zitiert aus einer Studie zum Laojiao-Anstaltsmanagement des Pekinger Zentralinstituts für Justizverwaltung: Die Laojiao-Insassen hätten pro Woche kaum vier Stunden Unterricht. Stattdessen müssten sie im Durchschnitt 76,5 Stunden arbeiten. Das seien täglich "mehr als zehn Stunden".