In zwei Wochen sind Regionalwahlen. Wer ein Land ohne Putin will, blickt auf Jewgenia Tschirikowa, die Bürgermeisterkandidatin von Chimki.

Chimki/Moskau. Auf einmal ist es dunkel. Die Laternen auf dem Spielplatz flackern noch kurz auf, dann fallen sie aus. "Jetzt schalten sie uns auch den Strom ab", sagt ein Mann mit Kinderwagen. Die anderen Männer und Frauen lachen. Jewgenia Tschirikowa steht in ihrer Mitte, hinter ihr jauchzen Kinder, sie klettern an einem Gerüst auf und ab. Es ist spät geworden. Ein kühler Wind weht über die Wiese, den Spielplatz und die Parkplätze. Wie durch ein Tal. Links und rechts stehen die Wohnblöcke, 25 Stockwerke hoch, kahl, die Hochhäuser ragen aus dem Boden wie Berge. Und Tschirikowa sagt den Eltern: "Es darf nicht sein, dass Sie hier so leben."

Neu-Chimki heißt die Vorstadt, nur wenige Kilometer außerhalb von Moskau. In den vergangenen Jahren haben Investoren hier ein Hochhaus nach dem anderen gebaut, es gibt ein Einkaufszentrum größer als das Terminal am Hamburger Flughafen, direkt daneben verkauft McDonald's Pommes, Ikea Bücherregale und Obi Bohrmaschinen. Wer sehen will, wie Russlands Hauptstadt an ihren Enden aus allen Nähten platzt, muss mit der Marschrutka, einem Sammeltaxi, hierherfahren. 200 000 Menschen leben in Chimki.

Jewgenia Tschirikowa wohnt seit acht Jahren in dem Vorort, allerdings ein paar Kilometer entfernt in Alt-Chimki, dort, wo die Häuser nur vier Stockwerke haben und ein mächtiger Wald angrenzt. Und vor allem wegen dieses Waldes kennen die Menschen in Russland Jewgenia Tschirikowa.

Die Unternehmerin und studierte Ingenieurin führt seit vielen Jahren den Protest gegen den Bau einer Maut-Autobahn an, die Moskau mit St. Petersburg verbinden soll. Die Straße führt mitten durch den Wald von Chimki. Hinter der Baufirma steckt ein Freund von Präsident Wladimir Putin. Und so wurden Tschirikowa und die Waldschützer auch zu einem Symbol des Widerstands gegen Putin.

In zwei Wochen wählen die Russen in vielen Regionen neue Bürgermeister, Ortsparlamente und Gouverneure. Auch in Chimki. Und Tschirikowa tritt an. Es ist das erste Mal, dass eine führende Vertreterin der Protestbewegung für ein solches Amt kandidiert.

Wer ein Land ohne Putin will, blickt auf Chimki. Und auf Tschirikowa. Beim "Marsch der Millionen" vor knapp zwei Wochen in Moskau warb sie vor 20 000 Putin-Gegnern auf dem Sacharow-Prospekt um Hilfe im Wahlkampf. Wer könne, solle Geld spenden. "Wir werden dieses Land in eine neue Ära der Bürgerrechte tragen", rief sie ins Mikrofon. Für den Kampf gegen die Abholzung zahlt die 35 Jahre alte Tschirikowa einen hohen Preis. Umweltschützer wurden von Polizisten oder Unbekannten verprügelt. Auch Tschirikowa selbst. Die Behörden drohten, ihr das Sorgerecht für ihre beiden Töchter zu entziehen. Sie misshandele die Kinder, hieß es nur. Ein Aktivist musste nach einem Angriff von Unbekannten anderthalb Jahre im Krankenhaus behandelt werden und sitzt jetzt im Rollstuhl. Der damalige Bürgermeister stritt eine Beteiligung an der Gewalt gegen Demonstranten ab.

Doch was Tschirikowa gewann, war Popularität: Über die Waldschützer berichteten nicht nur russische Medien. Journalisten aus dem Ausland kamen nach Chimki.

Auch an diesem Tag filmt ein norwegisches Kamerateam in der Zentrale von Tschirikowa. Ihre Wahlzentrale ist ein kleiner Raum in einem der 25 Stockwerke hohen Blöcke. In der Mitte steht ein Tisch mit Flyern, in der Ecke ein Sofa, daneben ein Wasserkocher, Tassen und Teebeutel. Sie tritt als Einzelkandidatin an, ohne Partei im Rücken.

Tschirikowa steht an diesem frühen Abend zwischen den Hochhäusern in Chimki neben einer älteren Frau. Sie schreibt fleißig mit, was ihr die Frau erzählt. Dass Kindergärten und ein Krankenhaus fehlen, dass es nicht genügend Arbeit gebe, dass man sich weniger Verkehr wünsche. Tschirikowa ist losgezogen mit einer Handvoll Anhänger. Nur selten sprechen sie an diesem Tag über den bedrohten Wald.

Gennadi Rodin steht neben Tschirikowa. Er verteilt Handzettel an die Anwohner auf dem Spielplatz. "Unser Kandidat: Jewgenia Tschirikowa" steht dort. Und in einigen Stichpunkten das Programm. Der Wald ist darin nicht erwähnt. Tschirikowa fordert zwar Grünzonen für Chimki. Aber vor allem spricht sie sich für Bürgerbeteiligung aus, gegen Korruption und Kriminalität und für den Bau von Spielplätzen - viele konkrete Ideen, weit mehr als ein Öko-Ideal.

Wie genau sie das alles erreichen will, steht nicht in ihrem Programm. Tschirikowa sagt nur: "Chimki ist durchaus wohlhabend. Der Flughafen Scheremetjewo liegt auf unserem Gebiet, auch die zahlreichen Firmen und Kaufhäuser zahlen in die Gemeindekasse ein." Die einen sagen: Der Umweltaktivistin fehle mittlerweile ein vernünftiges Konzept zum Schutz der Natur, sie habe bisher nur bewiesen, dass sie Medien und Menschen für eine Sache mobilisieren könne. In ihrem Programm fordert Tschirikowa auch den weiteren Ausbau der nahe gelegenen Hauptstraße. Die hat aber bereits acht Spuren.

Andere sagen: Es ist gerade der Protest für den Erhalt des Waldes, der zeigt, dass sie es ernst meint. Mit Chimki, mit der Opposition gegen Putin. "Ihr Plan zum Schutz der Umwelt ist sicher ein Plus bei der anstehenden Wahl", sagt der Moskauer Politikwissenschaftler Alexej Samowchalow dem Abendblatt. Tschirikowa mangele es allerdings an Erfahrung - gerade wenn sich die Aktivistin im Falle eines Wahlsieges mit der alltäglichen Verwaltung der Stadt auseinandersetzen muss. Dennoch traut er Tschirikowa bei der Wahl 30 Prozent der Stimmen zu. "Gewinnt sie, kann sie führende Figur in der Opposition gegen Putin werden."

Eine Opposition, die in diesen Wochen geschwächt wirkt. Zuletzt kamen weniger Menschen zu den Demonstrationen. Die Parteien von Nationalisten, über Liberale bis Kommunisten sind sich vor allem in einem einig: Weg mit Putin! Was danach kommen soll, bleibt unklar. Auch wer das Gesicht der Putin-Gegner sein kann, ist umstritten. Tschirikowa, sagen jetzt einige, hat schon im Kampf gegen die Autobahn verschiedene politische Gruppen zu einem Ziel vereinen können. Warum also nicht im Kampf gegen Putin?

Doch im Moment verläuft Tschirikowas politische Front vor allem in Chimki. Dem amtierenden Bürgermeister Oleg Schachow wirft sie illegale Wahlwerbung mithilfe der lokalen Zeitungen vor. "Mehrere Ausgaben des Blatts waren vollständig Herrn Schachow und seinen Verdiensten gewidmet", sagt sie. Die Medien sind in Russland mit wenigen Ausnahmen fest unter der Kontrolle der Regierenden. Das Staatsfernsehen zeigt die Kandidaten der Opposition vor allem dann, wenn gegen sie ein Prozess läuft.

In den Umfragen führt Schachow vor der Konkurrenz. 2009 trat Tschirikowa schon einmal bei den Bürgermeisterwahlen in Chimki an. Sie kam auf 15 Prozent der Stimmen. Den Kampf damals hat sie verloren. Und auch im Wald von Chimki schaufeln die Bagger in diesen Tagen vor der Wahl weiter fleißig die Trasse für die Autobahn nach St. Petersburg aus.