Hunderte Tote bei Welle von Terroranschlägen. Schiitischer Regierungschef will sunnitischen Vizepräsidenten hinrichten lassen

Hamburg. US-Verteidigungsminister Leon Panetta war Ende 2011 gerade mal ein paar Monate im Amt, als er die letzten US-Kampftruppen aus dem Irak verabschiedete. "Dies ist nicht das Ende", sagte der frühere CIA-Chef am 15. Dezember, "sondern erst der Anfang." Seine Worte sollten verheißungsvoll in den Ohren der Iraker klingen, die nach einem Vierteljahrhundert brutaler Herrschaft des Tyrannen Saddam Hussein, dem Einmarsch der US-Truppen 2003 und den sich anschließenden bürgerkriegsähnlichen Wirren nach dem Abzug der Amerikaner endlich auf ruhige Zeiten hofften. Rückblickend wirkt Panettas Ausspruch jedoch unfreiwillig zynisch. Denn der ethnisch und religiös begründete Terrorismus im Irak, der zwischenzeitlich abgeebbt war, fing nun erst richtig an. Seitdem ist kein Monat vergangen, in dem es nicht Dutzende Tote bei Anschlägen gegeben hat. Erst am Sonntag kamen rund 100 Menschen bei einer Serie von Attentaten in mehreren irakischen Städten ums Leben. Auch im August hatte es 100 Tote gegeben, an einem einzigen Tag im Juli - dem 23. - sogar 115. Gestern detonierte wieder eine Bombe, diesmal in der Hauptstadt Bagdad. Zehn Menschen starben.

Hinter der Terrorwelle wird in erster Linie das Netzwerk "al-Qaida im Irak" vermutet. Aber auch Anhänger des gestürzten Baath-Regimes von Saddam Hussein werden verdächtigt.

Den historischen Hintergrund liefert das religiös-politische Schisma der islamischen Welt. Als der Prophet Mohammed im Jahre 632 nach kurzer Krankheit starb, hatte er nicht eindeutig einen Nachfolger bestimmt. Eine Gruppe behauptete, er habe sich für seinen Schwiegersohn und Vetter Ali ibn Abi Talib ausgesprochen, was andere jedoch bestritten. Ali wurde zunächst übergangen; gewählt wurde nach zähen Verhandlungen Mohammeds Schwiegervater Abdallah Abu Bakr. Ihm folgte ein weiterer Schwiegervater, Umar ibn al-Chattab, diesem wiederum ein Schwiegersohn des Propheten, Uthman ibn Affan, der schließlich ermordet wurde. Nun erst wurde Ali gewählt, doch war seine Herrschaft instabil, denn es wurde ihm vorgeworfen, er sei in den Mord an Uthman verwickelt. Auch Ali erlag einem Attentat.

Die Spaltung zwischen der sunnitischen Mehrheit der Muslime - etwa 85 Prozent weltweit - und der Minderheit der Schiiten - der Partei Alis (Schiat Ali) - geht also auf die umstrittene Nachfolge des Propheten zurück. Die Schiiten werfen den Sunniten sogar vor, sie hätten eine Passage im heiligen Buch Koran gelöscht, die sich auf Ali als Nachfolger Mohammeds bezieht - eine schwerwiegende Anschuldigung.

Im Iran, im Irak und Bahrain stellen die Schiiten die Mehrheit, in einigen Staaten starke Minderheiten, in den meisten islamischen Staaten jedoch nur schwache Bevölkerungsgruppen.

Saddam Hussein war Sunnit und hatte die Schiiten blutig unterdrückt. Nach seinem Sturz veranstaltete die amerikanische Besatzungsmacht Wahlen, die zu einer schiitisch dominierten Regierung führten. So ist der derzeitige Regierungschef Nuri al-Maliki ein Schiit. Staatspräsident ist der Kurde Dschalal Talabani, einer seiner beiden Vizepräsidenten ist Schiit, der andere der Sunnit Tarik al-Haschemi.

Maliki hatte gegen Haschemi im Dezember 2011 eine juristische Kampagne in Bewegung gesetzt, worauf Haschemi außer Landes floh. Er hält sich derzeit in der Türkei auf. Dort hatte ihn am Sonntag das Urteil eines Gerichtshofs in Bagdad erreicht, in dem Haschemi und sein Schwiegersohn Ahmed Kahtan zum Tode durch den Strang verurteilt wurden. Dem Vizepräsidenten wird vorgeworfen, persönlich in zwei Morde verwickelt und früher Kommandeur einer sunnitischen Todesschwadron gewesen zu sein. Haschemi bestreitet dies vehement und behauptet, Nuri al-Maliki wolle mit der Intrige gegen ihn die Macht im Irak komplett an die Schiiten übertragen. Der Ministerpräsident hatte nach dem Abzug der US-Truppen sofort rund 600 ehemalige Angehörige des - sunnitischen - Baath-Regimes verhaften lassen.

Der Machtkampf an der Spitze des Staates wirkt wie ein Schwall Öl in das sektiererische Feuer, das ohnehin seit Langem im Irak schwelt. Die streng sunnitische Terrorgruppe al-Qaida im Irak, die von dem 1971 geborenen Iraker Abu Dua geleitet wird, der sich nicht zufällig auch "Abu Bakr" nennt, will mit ihrer Anschlagswelle gegen die Schiiten nicht nur ihre alten Erzfeinde treffen, sondern auch eine politische Konsolidierung des Landes verhindern. In einem politischen Chaos ohne Zentralgewalt hätten die Terroristen kaum eine organisierte Strafverfolgung zu befürchten. Abu Dua wird vorgeworfen, er lasse ganze Familien exekutieren, deren Mitglieder gegen die Interessen von al-Qaida im Irak handelten. Kurioserweise waren es vor allem sunnitische Politiker gewesen, die die Amerikaner vergeblich um eine Verlängerung ihrer Irak-Mission gebeten hatten - und radikale Schiiten, die die US-Truppen zum sofortigen Abzug aufgefordert hatten. Noch weiter kompliziert wird die angespannte Situation zudem durch die angespannten Beziehungen zwischen der Türkei - wo Haschemi Asyl genießt - und dem Irak sowie durch die militärisch-terroristischen Aktivitäten iranisch-schiitischer Kräfte im benachbarten Syrien. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Gewalt in Syrien, die ebenfalls zunehmend entlang ethnisch-religiöser Grenzen verläuft, jene im Irak weiter anheizen könnte.