Allein im August verließen 100 000 Menschen das Land aus Angst vor der Gewalt. Reservisten verweigern Dienst in Assads Armee

Damaskus/Genf. Das syrische Flüchtlingsdrama erreicht eine neue Dimension: Vor der eskalierenden Gewalt zwischen Rebellen und den Truppen von Präsident Baschar al-Assad sind im August so viele Menschen geflohen wie noch nie seit Beginn des Konflikts im Frühjahr vergangenen Jahres. 100 000 Menschen hätten aus Angst vor der Gewalt das Land verlassen, erklärte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gestern in Genf. Die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien sei auf fast 235 0000 gestiegen, sagte UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) mahnte angesichts der dramatischen Lage der Syrer rasches Handeln an: "Wir müssen alles Mögliche unternehmen, um einen Kollaps der Infrastruktur und der Grundversorgung zu vermeiden", sagte er in Berlin. In Gebieten, die unter Kontrolle der Rebellen stünden, könne schon jetzt geholfen werden. Die internationale Gemeinschaft müsse sich zudem auf schnelle Hilfe für die Zeit nach dem Sturz des Assad-Regimes vorbereiten.

In Berlin tagten gestern rund 60 Regierungsdelegationen aus aller Welt zusammen mit syrischen Oppositionellen. Sie gehören zur Arbeitsgruppe "Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung", die Teil der "Freundesgruppe des syrischen Volkes" ist.

Im Kampf um die Wirtschaftsmetropole Aleppo meldeten die Rebellen derweil massive Geländegewinne. Die Aufständischen hätten nun den Großteil der Stadt in ihre Gewalt gebracht, sagte Abdul Kadir Saleh, Kommandeur der Tauhid-Brigade, die die Offensive in Aleppo anführt. "Das Regime kontrolliert nur 30 Prozent", sagte er. Die Regierungstruppen griffen nun Wohngebiete an, "um Zivilpersonen gegen Rebellen aufzuhetzen".

Derweil mehren sich die Anzeichen für einen Machtzerfall von Präsident Assad. Die Armee hat wachsende Schwierigkeiten, ihre Verluste durch Reservisten zu ersetzen. Unter dem Eindruck der immer heftigeren Gefechte mobilisiert die Regierung in Damaskus nach Angaben von Offizieren Reservisten. Dabei handelt es sich um Männer, die ihren zweijährigen Armeedienst bereits geleistet haben. Doch viele weigern sich, wieder in den aktiven Dienst zu treten. Ein Offizier in Homs schätzte, dass sich nur die Hälfte der Einberufenen zum Dienst gemeldet hat. "Es mangelt an Männern. Viele wurden getötet, und es setzten sich Soldaten ab", sagte er. Die Armee macht dazu keine Angaben. Bewohner von Damaskus berichteten, an Kontrollposten würden junge Männer darauf überprüft, ob sie als Reservist einberufen wurden oder auf der Flucht sind.

Gestern wurde zudem bekannt, dass Assads Verbündeter Russland zeitweise erwogen hatte, wegen des Bürgerkrieges seinen Flottenstützpunkt in der syrischen Hafenstadt Tartus teilweise zu räumen. Moskau habe befürchtet, Assad könne im Bürgerkrieg unterliegen. Die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete unter Berufung auf Quellen im Militär, im Sommer sei erwogen worden, Soldaten aus Tartus abzuziehen. Es sei aber entschieden worden, die Situation sei stabil genug. Tartus ist der einzige Militärstützpunkt Russlands im Mittelmeer.