Die Einkommen haben sich seit 2002 verdoppelt, die privaten Schulden verzehnfacht. Nun erlahmt die Konjunktur

Istanbul. Seit die islamisch geprägte AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei regiert, boomt das Land. Die Menschen verdienen im Vergleich zum Jahr 2002, als die AKP antrat, heute doppelt so viel.

Nur: Sie haben - gemessen an ihrem deutlich gewachsenen Einkommen - fast zehnmal mehr Schulden. In absoluten Zahlen sind die Schulden der Haushalte seit 2002 sogar um das 18-Fache gestiegen. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat die Türkei das kopiert, was anfangs noch als Erfolgsrezept der westlichen Länder erschien: Kredit ohne Ende.

Bankschulden gehörten noch vor zehn Jahren nicht zur türkischen Haushaltskultur. Im Jahr 2003 entsprach die Gesamtverschuldung der türkischen Haushalte lediglich 5,5 Prozent ihres verfügbaren Jahreseinkommens. Dann aber begannen die Banken, in großem Stil Kreditkarten, Privat-, Immobilien- und Fahrzeugkredite anzubieten. Zuweilen errichteten die Institute kleine Kioske in den Einkaufsstraßen, Passanten wurden gezielt angesprochen - und nachdem sie ein Formular ausgefüllt hatten, hielten sie auch schon eine Kreditkarte in der Hand.

Wie locker das gehandhabt wurde, zeigt das Beispiel einer Istanbuler Putzfrau, die hier nicht genannt werden soll. Sie verfügt über kein gemeldetes Einkommen, lebt von dem Stundenlohn, den ihr diverse Arbeitgeber bar auf die Hand zahlen, hat aber zwei Kreditkarten. Die zweite Karte nahm sie nur, um damit die Schulden auf der ersten - zumindest teilweise - abzutragen, als diese ausgereizt war.

So läuft das im ganzen Land, und das Ergebnis ist, dass eine in der Kreditaufnahme unerfahrene und oft naive Bevölkerung in Rekordzeit enorme Schulden aufgehäuft hat. Gegenwärtig beläuft sich der Schuldenstand der privaten Haushalte auf 51,7 Prozent eines Jahreseinkommens - so behauptet es die Oppositionspartei CHP, die sich dabei auf eine von ihrem Abgeordneten Sinan Aygün vorgestellte Studie beruft. Dort heißt es unter anderem, dass die privaten Haushalte im vergangenen Jahr umgerechnet etwa zehn Milliarden Euro an Zinsen zahlten (23 Milliarden Lira), neun Jahre zuvor seien es nur vier Milliarden Lira gewesen.

Aygün war früher Vorsitzender der Handelskammer von Ankara und gilt als ausgesprochen radikaler Gegner der Regierung. Seine Studie versucht zu suggerieren, dass die Regierungspartei AKP die Türkei in eine Schuldenspirale gestürzt hat. Doch diese Schuldzuweisung ist angreifbar. Die Entwicklung ist zu einem großen Teil den Banken und ihrer aggressiven Kreditvergabe auf dem freien Markt anzukreiden.

Türkische Medien zitieren den Oppositionsabgeordneten mit den Worten: "Die Schulden der privaten Haushalte wachsen wie ein Schneeball. Niemand sollte sich davon täuschen lassen, dass die Schuldenrate geringer ist als in manchen europäischen Ländern. Bürger finanzieren ihre Ausgaben auf Kredit, und sie versuchen ihre Schulden mit neuen Krediten zu bezahlen, da ihr Realeinkommen fällt."

Das Stichwort "Realeinkommen" ist ein wunder Punkt für die Regierung: Zwar sind einerseits die Einkommen stark gestiegen, andererseits aber bleibt die Inflation beträchtlich - bis Ende Juni waren es bereits neun Prozent. Die Regierung hat sich eine Senkung auf fünf Prozent zum Ziel gesetzt. Die relativ hohe Geldentwertung bedeutet, dass der Einkommensanstieg seit 2002 zu einem großen Teil von der Inflation wieder aufgefressen wurde.

Schon im Frühling hatte die Bankenaufsicht versucht, eine Schuldenbremse durchzusetzen. Die 27 Millionen Kreditkarteninhaber sollen künftig nur noch dann Bargeldvorschüsse auf ihre Karten abheben können, wenn sie mindestens die Hälfte ihrer Kreditkartenschulden beglichen haben. Dennoch steigt insgesamt die Verschuldung der privaten Haushalte weiter. Bei Konsumentenkrediten im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent, bei Kreditkartenschulden gar um 15 Prozent.

Mit anderen Worten: Die Türkei boomt auf Pump. Zwar sind die Verhältnisse noch nicht so dramatisch wie in den meisten westlichen Staaten, und die Regierung in Ankara ist sich des Problems wahrscheinlich sehr viel bewusster, als dies in den entwickelten Ländern vor Ausbruch der Wirtschaftskrise der Fall war. Aber wenn es so weitergeht, wird die Verschuldung der türkischen Haushalte schon bald westliche Verhältnisse erreichen - und eine Grenze, ab der es nicht mehr weitergeht.

Die hohe Verschuldung dürfte auch dem türkischen Wirtschaftsboom demnächst eine Grenze setzen, denn das Wachstum des Landes wurde in den vergangenen Jahren vor allem durch den privaten Verbrauch angetrieben. Erste Indizien für eine sich abschwächende Konjunktur gibt es bereits: Im ersten Quartal 2012 wuchs der Verbrauch der privaten Haushalte erstmals seit Langem nicht mehr. Die Wachstumsrate im ersten Quartal belief sich auf relativ magere 3,2 Prozent. Für das zweite Quartal erwarten Experten einen ähnlichen Wert, und im dritten Quartal gar nur noch 0,8 Prozent. Viele Jahre lang war die türkische Wirtschaftsleistung um rasante acht Prozent gewachsen.

Andere Wachstumsquellen trocknen derzeit aus: Bis zum Ende dieses Jahres dürften insgesamt zwei Millionen ausländische Touristen weniger die Türkei besucht haben als im Vorjahr. Eine Folge des Syrienkonflikts, des wieder aufgeflammten Krieges gegen die kurdische PKK und auch wegen der gesunkenen Einkommen in weiten Teilen Europas. Der neue Handel mit den Ländern des Ostens, auf den die Regierung in Ankara so sehr gesetzt hatte, leidet unter dem Arabischen Frühling - mit Syrien, zum Beispiel, läuft im Handel derzeit nichts mehr.

Ein kompletter Einbruch der Wirtschaft droht der auch demografisch noch dynamischen Türkei in den nächsten Jahren sicher nicht. Aber den Sturm-und-Drang-Zeiten des Booms dürften demnächst deutlich mäßigere Jahre folgen.