Für Verfolgte sind sie manchmal der letzte Rettungsanker: die Gebäude der diplomatischen Vertretungen. Dabei sind sie kein exterritoriales Gelände, stehen aber unter dem Schutz des Gastlandes

A ls der Australier Julian As- sange am 19. Juni in die Botschaft der Republik Ecuador in London flüch- tete und dort politisches Asyl beantragte, dürfte ihm klar gewesen sein, dass es vermutlich schwierig werden könnte, dieses Haus wieder zu verlassen. Der WikiLeaks-Gründer hatte gegen die Kautionsauflagen verstoßen und würde beim Verlassen der Botschaft sofort verhaftet und nach Schweden ausgeliefert, wo er eines Sexualdelikts wegen unter Anklage steht.

Aber in der Londoner Botschaft ist er vor dem Zugriff der britischen Polizei erst einmal sicher. Zwar haben britische Sicherheitskräfte das südlich des Hydeparks gelegene viktorianische Gebäude umstellt, aber eindringen und Assange innerhalb des Geländes festnehmen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nicht, auch wenn der britische Außenminister William Hague eine solche Variante ins Spiel gebracht hat. Denn damit würde Großbritannien einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, der sich in Zukunft durchaus auch gegen britische Bürger und britische Interessen in anderen Ländern richten könnte.

Botschaften sind zwar keineswegs, wie landläufig angenommen wird, exterritoriales Gebiet, gehören also nicht zum Hoheitsgebiet des Entsendestaates, aber sie stehen unter besonderem völkerrechtlichem Schutz. In Artikel 22 des 1962 in Kraft getretenen Wiener Abkommens über diplomatische Beziehungen ist festgeschrieben, dass Botschaften diplomatische Vorrechte genießen.

Dazu zählt auch der Schutz vor dem Zugriff der Behörden des jeweiligen Gastlandes. Ohne Einwilligung des Missionschefs dürfen sie das Botschaftsgelände nicht einmal betreten, geschweige denn Durchsuchungen, Beschlagnahmungen oder gar Festnahmen vornehmen.

An diese Regel haben sich bisher fast alle Staaten gehalten, eine Ausnahme bildete nur der Iran, der während der Islamischen Revolution die US-Botschaft in Teheran am 4. November 1979 von fanatischen Studenten besetzen ließ, die Botschaftsangehörigen als Geiseln nahm und erst nach 444 Tagen ihre Ausreise gestattete.

Selbst während des Kalten Krieges waren die Botschaften für das jeweilige Gastland in der Regel tabu. Die relative Sicherheit, der Umstand also, dass sich innerhalb eines Landes ein Territorium befand, auf das die eigenen Sicherheitskräfte keinerlei Zugriff hatten, machte die Botschaften vor allem in den Ostblockstaaten für Dissidenten und Flüchtlinge besonders attraktiv.

Die Flucht in eine ausländische Vertretung wurde oft zum letzten Mittel, sich der Verfolgung durch den Repressionsapparat einer Diktatur zu entziehen oder die Ausreise in den Westen zu erzwingen.

Zum Beispiel für Józef Kardinal Mindszenty (1892-1975), den Primas von Ungarn. Schon im November 1948 hatten die kommunistischen Behörden den Kardinal verhaftet und ihn im Februar 1949 in einem Schauprozess wegen Umsturzes, Spionage und Devisenvergehen zu lebenslanger Haft verurteilt. Während des Volksaufstandes befreiten ihn Arbeiter am 25. Oktober 1956 aus dem Gefängnis in einer Provinzstadt und brachten ihn im Triumphzug nach Budapest, wo er die Revolutionsregierung unter Imre Nagy unterstützte. Als die Sowjets ihre Panzer nach Budapest schickten und den Aufstand blutig niederwalzten, floh Mindszenty in die US-Botschaft, wo er politisches Asyl erhielt. Insgesamt verbrachte der Kirchenmann 15 Jahre auf dem Gelände der Botschaft und ist damit wohl Rekordhalter unter den Botschaftsflüchtlingen. Am 28. September 1971 konnte er nach langjährigen Verhandlungen das Gebäude verlassen und in Begleitung des österreichischen Nuntius Opilio Rossi unbehelligt nach Wien reisen. Einige Monate nach Mindszenty hatte auch der amerikanische Journalist Endre Márton gemeinsam mit seiner Familie in der Botschaft Zuflucht gesucht. Der wohl wichtigste Berichterstatter über den Ungarnaufstand wurde jedoch schon nach kurzer Zeit aus der Gesandtschaft geschmuggelt und nach Wien gebracht.

Dem gestürzten Regierungschef Nagy erging es schlechter. Er war in die jugoslawische Botschaft geflohen, die sowjetische Panzer umstellten. Nachdem ihm der neue kommunistische Parteichef János Kádár Straffreiheit zugesichert hatte, verließ er die Botschaft, wurde aber sofort vom KGB verhaftet. Nach einem Schauprozess verurteilte man ihn am 16. Juni 1958 zum Tode und hängte ihn noch am selben Tag.

Zu einem jahrelangen Aufenthalt in Botschaften kam es nur in seltenen Fällen, denn meistens wollten sowohl das Gast- als auch das Entsendeland das Problem möglichst geräuschlos aus der Welt schaffen. Das gelang nicht immer, wie das Beispiel einer Gruppe von sieben russischen Christen aus Tschernogorsk zeigt. Den Mitgliedern einer sibirischen Pfingstgemeinde, die in die USA auswandern wollten, war es 1978 gelungen, in die vom KGB streng bewachte amerikanische Mission in Moskau zu gelangen. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen, trotzdem zeigten sich die sowjetischen Behörden hart und verweigerten die Ausreise in die USA. Erst 1983 kamen die Christen, die jahrelang im Botschaftskeller leben mussten, endlich frei und in den Westen.

Andere Fälle wurden in der Öffentlichkeit überhaupt nicht bekannt: Zum Beispiel die Geschichte der Freundin des Stasi-Offiziers Werner Stiller, der am 19. Januar 1979 nach West-Berlin floh und gleich reihenweise DDR-Agenten auffliegen ließ. Da er seine Freundin nicht mitnehmen konnte, war sie in die bundesdeutsche Vertretung nach Warschau geflohen, die sie einige Monate später in den Westen schleuste.

Eine geschichtlich herausragende Rolle spielte die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Seit ihrer Eröffnung 1974 im barocken Lobkowitz-Palais kamen immer wieder DDR-Flüchtlinge hierher, um ihre Ausreise zu erreichen. Das gelang in der Regel, wurde aber meist geräuschlos abgewickelt. Prag war für Ostdeutsche relativ leicht zu erreichen, deshalb wurde das Palais Lobkowitz zeitweise zu einer regelrechten Fluchtburg. Vor allem im Herbst 1989, als zeitweise 4000 DDR-Bürger auf dem Gelände ausharrten, bis der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon bei seinem historischen Auftritt die Lösung des weltweit beachteten Flüchtlingsdramas verkünden konnte.

Aber nicht alle westlichen Botschaften waren während des Kalten Kriegs bereit, Menschen aus kommunistischen Staaten zur Freiheit zu verhelfen. Während DDR-Bürger sich gegenüber bundesdeutschen Botschaften grundsätzlich auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft berufen konnten, aus der sich eine Fürsorgepflicht ableitet, reagierten andere westliche Staaten mitunter teilweise ablehnend.

Mehrfach drangen in den späten 1980er-Jahren DDR-Bürger in die Ost-Berliner US-Botschaft ein, um ihre Ausreise zu erzwingen. Meistens gelang das auch mit Unterstützung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik, die ohnehin häufig von einzelnen oder ganzen Gruppen Ausreisewilliger besetzt wurde. Aber zumindest in einem Fall verhielten sich die Amerikaner anders: Als am 3. Oktober 1989 erneut Ausreisewillige in das Missionsgebäude an der Berliner Schadowstraße eindringen wollten, wurden sie nicht nur von der Stasi, sondern auch von GIs abgedrängt. In einem geheimen Stasi-Bericht wird das lobend vermerkt: "Bei der Verhinderung des gewaltsamen Eindringens und der Abdrängung der daran beteiligten Personen wurden die DDR-Kräfte von Marinewachsoldaten der USA-Botschaft unterstützt." Noch fragwürdiger hatte sich ein Jahr zuvor die dänische Botschaft in Ost-Berlin verhalten, die sogar Stasi-Mitarbeiter ins Haus holte, um DDR-Flüchtlinge zu entfernen. Diese wurden dann in einem Reisebus vom Botschaftsgebäude direkt in das Stasi-Gefängnis an der Berliner Magdalenenstraße gebracht.

DDR-Partei- und Staatschef Erich Honecker hätte sich damals vermutlich kaum vorstellen können, irgendwann einmal in eine ähnliche Lage geraten zu können. Doch als sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion abzeichnete, dass die neue russische Regierung unter Boris Jelzin den ungebetenen Gast aus dem Moskauer Exil in die Bundesrepublik ausweisen könnte, verwandelte sich auch der einst so mächtige Politiker zum Bittsteller an einer Botschaftstür: Am 11. Dezember 1991 fanden er und seine Frau Margot in der chilenischen Vertretung in Moskau Zuflucht. Bis zum 29. Juli 1992 lebte das Politikerehepaar dort, dann ließ sich Honecker doch nach Berlin fliegen, wo er vor Gericht gestellt wurde. Aufgrund seiner Krebserkrankung stellte man das Verfahren jedoch bald ein und ließ den Ex-Diktator zu Ehefrau und Tochter nach Chile ausreisen.

Auch außerhalb des Ostblocks suchten immer wieder Menschen Zuflucht in Botschaftsgebäuden. Zum Beispiel 1973 während des Militärputsches in Chile, wo Anhänger der Allende-Regierung sowohl in der bundesdeutschen als auch in der DDR-Botschaft aufgenommen wurden.

Immer wieder machten vor allem prominente Botschaftsflüchtlinge Schlagzeilen: Im Dezember 1989 zum Beispiel Panamas Diktator Manuel Noriega, der in den USA vor allem wegen Drogenhandels vor Gericht gestellt werden sollte. Er floh in die vatikanische Botschaft in Panama-Stadt, stellte sich jedoch 1990 freiwillig den USA, zu deren Geheimdienst CIA er jahrzehntelang beste Beziehungen unterhalten hatte. Genützt hat es ihm nichts: Er wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. Mehr Glück hatte Venezuelas Oppositionsführer Carlos Ortega, der einen Streik zum Sturz des linkspopulistischen Präsidenten Hugo Chávez organisiert hatte und anschließend per Haftbefehl gesucht wurde. Er flüchtete 2003 in Caracas in die Botschaft von Costa Rica, von der aus er unauffällig außer Landes kam.

Zuletzt war der blinde chinesische Dissident Chen Guangcheng im April dieses Jahres aus seinem Hausarrest in die amerikanische Botschaft in Peking geflohen, um für sich und seine Familie die Ausreise in die USA zu erreichen. Nach einigen Tagen sicherten die chinesischen Behörden ihm überraschend zu, zügig Reisedokumente auszustellen. Daher konnten er und seine Angehörigen am 19. Mai ein Flugzeug nach New York besteigen.

So unbehelligt dürfte Julian Assange Großbritannien allerdings kaum verlassen können, da hier das Prestige aller Beteiligten auf dem Spiel steht. In einem Interview mit der "Jungen Welt" entwirft der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech das folgende Szenario: "Assange kann die Botschaft zwar verlassen - aber nur in einem ihrer Dienstfahrzeuge in Begleitung eines Diplomaten. Wenn er aussteigen würde, um nur einen Kaffee zu trinken, könnte er sofort festgenommen werden. Der Botschafter könnte ihn zwar im Auto zum Flughafen bringen - er könnte dort aber nicht aussteigen, ohne dass sofort die Handschellen klicken."

Vielleicht sollte sich der WikiLeaks-Gründer tatsächlich auf einen längeren Aufenthalt in der ecuadorianischen Botschaft in der britischen Hauptstadt einstellen.