Die Forscherin Hülya Özaktürk sprach in der Türkei mit 27 Tätern. Keiner von ihnen bereute. Die Zahl der Taten steigt seit einigen Jahren.

Istanbul. Kann man Mitgefühl haben mit einem "Ehrenmörder"? Soziologin Hülya Özaktürk verspürt so etwas - zumindest in dem einen oder anderen Fall. Sie hat mit 27 Männern lange Interviews geführt, die in türkischen Gefängnissen sitzen, weil sie ihre Frau, Mutter, Schwester oder Tochter umgebracht haben. Um die "Ehre" der Familie zu retten. "Da war ein Fall", erzählt sie, "der Täter war ganz jung, der jüngste Sohn - alle Brüder und sonstige infrage kommende männliche Verwandte waren im Ausland oder weit weg, der Vater war blind. Der Druck muss enorm gewesen sein, dass er derjenige sein muss, der das Töten auf sich nimmt. Er hat dann aber den Mann getötet, der seine Schwester sexuell belästigt hatte, und damit eigentlich die Schwester geschützt."

Seit Mitte der 2000er-Jahre zeigen die Statistiken einen deutlichen Anstieg der Ehrenmorde in der Türkei. Es gibt dringende Aufrufe, etwas dagegen zu tun. Aber seltsamerweise wurde bislang die direkteste Quelle, um das Phänomen zu verstehen, kaum erschlossen. Es gibt kaum systematische Studien über die Weltsicht und Motive der Täter. Die Journalistin Ayse Önal hat vor einigen Jahren mit einer Reihe von Ehrenmördern gesprochen und ein Buch darüber geschrieben. Der Soziologe Mazhar Bagli arbeitet an einer Studie auf der Grundlage zahlreicher Interviews. Die Arbeit ist aber bislang nicht veröffentlicht. Die erste wissenschaftliche Studie anhand von Interviews mit den Tätern ist jetzt Hülya Özaktürks Aufsatz "Ehrenmorde in der Türkei", vor Kurzem veröffentlicht in den "Pera-Blättern" des Istanbuler Orient-Instituts. Sie filtert die Aussagen, um den mörderischen Ehrbegriff der Täter anhand deren eigener Worte schärfer und tiefer denn je zu definieren. Dabei kommt sie der Erkenntnis: Die "Ehre" ist deswegen so wichtig, weil von ihr die materielle Existenz abhängt. Mit anderen Worten, junge Frauen müssen sterben, damit die Familie keine materiellen Verluste erleidet.

+++ Ankläger: Viermal Lebenslang für Ehrenmord +++

Özaktürk teilt den Ehrbegriff anhand der Aussagen der Täter in drei verschiedene Dimensionen: Seref (die Ehre des Familiennamens), Namus (sexuelle Reinheit, Keuschheit, Gesittetheit der Frau) und Itibar. In der Forschung ist der Schwerpunkt bisher auf "Seref" und "Namus" gelegt worden: Die Ehre der Familie ist abhängig von der Reinheit ihrer Frauen und muss im Falle einer Verfehlung mit Blut reingewaschen werden. Özaktürk meint aber, dass der bislang eher vernachlässigte Begriff "Itibar" die entscheidende Dimension ist, die zu den Morden führt. Itibar bedeutet unter anderem "Kredit". Wer seinen "Itibar", seine Glaubwürdigkeit verliert, kann keine Geschäfte mehr machen. "Wenn du Itibar hast, wirst du ohne Bürgen überall einkaufen können, da dir überall Kredit gegeben wird", sagt einer der Täter, den die Verfasserin, wie alle ihre Gesprächspartner, anonymisiert, aber nach Alter, Herkunft und Religion kategorisiert. In diesem Fall: 40, kurdisch, sunnitisch. Ein anderer sagt: "Man kann einem Mann nur Ware geben, wenn er Itibar hat. Ich kaufte 200 Tiere ein, ohne zu bezahlen." (60, kurdisch, sunnitisch).

Aus solchen Zitaten gewinnt die Studie ihre Kraft: Özaktürk befragt die Mörder gezielt nach deren Verständnis der verschiedenen Worte, die "Ehre" bedeuten. Was daraus entsteht, ist die bislang präziseste Definition des komplex verschachtelten Ehrbegriffs - die Analyse eines Wertesystems, das tötet, anhand der Worte der Mörder.

Verkürzt gesagt: Ein Ehrenmann (Serefli) ist einer, der seinen Namus erfolgreich verteidigt (die Unbeflecktheit seiner Frauen und weiblichen Angehörigen) und dadurch Itibar hat, also Kredit. Umgekehrt: Wessen Namus befleckt wird, der ist entehrt, ohne Seref, und daher ohne Itibar, ohne Kredit. Derjenige wird wirtschaftliche Nachteile erfahren, denn oft beruht die wirtschaftliche Existenz der betroffenen Familien auf Kleinhandel oder Agrarwirtschaft, wobei sie auf ein Netzwerk von Kontakten angewiesen sind, das zusammenbricht, sobald sie ihre "Ehre" verlieren. Derjenige wird auch seine Kinder nicht mehr vorteilhaft verheiraten können, um so Allianzen zwischen Familien zu schmieden, die wiederum wirtschaftlichen Vorteil bringen.

Özaktürk zufolge ist diese wirtschaftliche Dimension der eigentliche Grund, warum Ehrenmorde passieren. Seinen Ursprung hat dieses Wertesystem natürlich in vorislamischen, archaischen Stammes- und Klangesellschaften. Dort beruhen Macht und wirtschaftlicher Erfolg auf der Stärke des Verwandtschaftsverbandes, und diese Geschlossenheit des Klans hängt ab von der sexuellen Kontrolle der Frauen.

Frau Özaktürk widerspricht jedoch der gängigen Auffassung von Islamwissenschaftlern und muslimischen Geistlichen, dass der Islam nichts mit Ehrenmorden zu tun habe. Aus ihren Gesprächen mit den Tätern kann sie belegen, dass jeder von ihnen sein Verbrechen als etwas betrachtet, was im Einklang mit den Anforderungen des Islam steht. Zumindest in der subjektiven Weltsicht der Täter gibt es keinen Widerspruch zwischen Islam und Ehrenmord. "Die Leute dürfen nicht sagen, dass ich meine Tochter mit fremden Männern herumlaufen lasse; ich bin ein Mann, der betet und die rituellen Waschungen vollzieht", sagt einer der Täter. Und ein anderer rechtfertigt seinen Mord mit den Geboten des Islam: "Unzucht ist "haram", es ist verboten."

"Der semantische Gehalt des Ehrbegriffs, die getrennte Rollenverteilung der Geschlechter, die Anforderungen an die Frauen, sich demütig zu verhalten und nicht mit fremden Männern zu kommunizieren, das alles ist im Koran enthalten, und entspricht genau dem ,Namus'-Begriff des archaischen Wertesystems", sagt Frau Özaktürk. Der Koran konserviere daher bis zu einem gewissen Grad stammesgesellschaftliche Wertvorstellungen. Das liege sicher auch daran, dass der Koran "aus einer Stammesgesellschaft heraus entstand und daher deren Werte spiegelt", wenn auch in abgemilderter Form: "Der Koran ruft nicht zum Ehrenmord auf." Stattdessen sind für Ehebrecher 80 Peitschenhiebe vorgesehen, an einer anderen Stelle heißt es, man solle die sündhafte Frau in ein Haus sperren, bis der Tod sie holt "oder Allah ihr eine Möglichkeit gibt". In der Praxis wurde daraus bald Steinigung, sagt Özaktürk.

Von den 27 Tätern, mit denen sie sprach, "hat keiner seine Tat bereut, obwohl es den meisten für die Frau leidtat. Sie alle empfanden ihre Tat als etwas, das den Erwartungen der Gesellschaft entsprach und ihrer Familie, ihrem Klan nützte." Schärfere Gesetze helfen ihrer Meinung nach wenig: "Der Effekt ist, die Tat zu beschleunigen. Denn wenn man wartet, wird die Frau sich retten und der Staat sie schützen, und je mehr Zeit vergeht bis zum Ehrenmord, desto größer die Schande der Familie und eventuell ihr wirtschaftlicher Nachteil." Özaktürk fand auch keine großen Unterschiede in den Wertvorstellungen türkischer und kurdischer "Ehrenmörder" oder zwischen Anhängern verschiedener islamischer Konfessionen. Für den statistischen Anstieg von Ehrenmorden in den letzten Jahren macht Özaktürk drei Gründe aus: "Es ist teilweise ein künstlicher Effekt, mehr Ehrenmorde werden als solche erkannt als früher." Zweitens biete die rapide Öffnung und Modernisierung der Gesellschaft den Frauen immer mehr Gelegenheit, sich - in den Augen der Familie - "sündhaft" zu verhalten. Drittens habe die offen islamische Rhetorik der Regierung religiöse Kreise der Gesellschaft ermutigt, ihre Wertvorstellungen konkret umzusetzen.