Laut Sender Al-Dschasira: Gleiche Methode mit radioaktivem Stoff wie bei Litwinenko. Die Autonomiebehörde ist zu einer Exhumierung bereit.

Tel Aviv. Am Abend des 12. Oktober 2004 klagt Jassir Arafat über Bauchschmerzen und Durchfall, er muss sich übergeben. Die Ärzte vermuten zunächst eine Grippe, doch die fieberlosen Beschwerden wollen nicht verschwinden. Zwei Wochen später bekommt der inzwischen stark abgemagerte Palästinenserpräsident seine erste Dosis Antibiotika, am 27. Oktober wird er nach Frankreich in ein Militärkrankenhaus außerhalb von Paris verlegt. Doch es ist zu spät: Am 11. November 2004 stirbt Jassir Arafat im Alter von 75 Jahren. Über die Todesursache herrscht bis heute Unklarheit. Zahllose Verschwörungstheorien machen die Runde. War Arafat etwa HIV-infiziert? War er an einer Leberzirrhose gestorben? Hatten die Israelis ihn vergiftet? Oder war er Opfer einer innerpalästinensischen Intrige geworden?

Der arabische Nachrichtensender al-Dschasira will nun neue Indizien für eine Vergiftung des Palästinenserführers gesammelt haben. Bei der Untersuchung von Speichel-, Blut- und Urinresten an der Kleidung und den persönlichen Gegenständen Arafats im Institut de Radiophysique in Lausanne seien überraschend hohe Werte des seltenen radioaktiven Stoffes Polonium-210 gemessen worden, sagte der Sprecher des Instituts, Darcy Christen. 60 bis 80 Prozent der Polonium-Rückstände hätten zudem keinen natürlichen Ursprung. Christen fügte allerdings hinzu, dass das Ergebnis keine Rückschlüsse darüber zulasse, ob Arafat vergiftet wurde oder nicht. Die in seiner Krankheitsakte festgehaltenen Symptome stimmten nicht mit denen von Polonium-210 überein.

In dem Al-Dschasira-Beitrag klingt das ganz anders. Der nachweislich im Jahr 2006 mit Polonium vergiftete russische Geheimagent und Regimekritiker Alexander Litwinenko habe vor seinem Tod unter Durchfall, Gewichtsverlust und Übelkeit gelitten - ganz wie Arafat, heißt es dort. Litwinenko war in einem Londoner Sushi-Restaurant eine tödliche Dosis Polonium in den Tee verabreicht worden. Allerdings ist über die Symptome einer Polonium-Vergiftung nicht viel bekannt, da es nur sehr wenige Fälle gibt. Die britische Polizei kam nach dem Mord an Litwinenko zu dem Ergebnis, nur ein gut ausgebildeter staatlicher Geheimdienst könne Polonium-210 als Gift nutzbar machen.

Das scheint im Fall Arafat den Verdacht auf die Israelis zu lenken. Niemand zweifelt daran, dass die Israelis in einem ihrer beiden nuklearen Forschungsreaktoren auch Polonium herstellen können. Unbestätigten Berichten zufolge sollen in den 50er-Jahren mindestens zwei Forscher am israelischen Weizmann-Institut an den Folgen einer Polonium-Vergiftung gestorben sein. Auch an Drohungen aus Jerusalem hatte es vor Arafats Tod nicht gemangelt: Der damalige Ministerpräsident Ariel Scharon hatte 2002 der Zeitung "Ma'ariv" gesagt, er bedaure, Arafat 1982 während des Libanonkriegs nicht "eliminiert" zu haben. Sein Tod hätte viele Menschenleben gerettet. Gleichzeitig verwies er aber auf ein israelisches Versprechen, Arafat nichts anzutun: "Und Versprechen müssen gehalten werden." Scharons Stellvertreter und späterer Nachfolger, Ehud Olmert, ging im September 2003 noch weiter und sagte, es sei "definitiv eine Möglichkeit, Arafat zu töten". Israel werde alle Terrorführer eliminieren, und Arafat sei ein Terrorführer.

Israelische Politiker, die damals an Kabinettssitzungen teilnahmen, versichern bis heute, man habe zwar allerlei Möglichkeiten diskutiert, sich letztlich aber darauf beschränkt, Arafat zu isolieren. Seit dem Frühjahr 2002 saß der Palästinenserführer deshalb in seinem Hauptquartier in Ramallah fest, von israelischen Truppen belagert. Israel warf ihm damals vor, sowohl Friedensverhandlungen zu wollen als auch Gewalt und Terror zu unterstützen.

Recherchen von "Le Monde", der israelischen Zeitung "Ha'aretz" und der "New York Times" kamen nach Einsicht der bis heute unveröffentlichten 558 Seiten umfassenden Krankenakte Arafats übereinstimmend zu dem Schluss, Arafat sei an einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) gestorben. Aufgrund von Fehlfunktionen bei der Blutgerinnung können dabei Gefäßverschlüsse zum Tode führen. Die für die Blutkrankheit verantwortliche Infektion hätten die Ärzte allerdings nie ausfindig machen können. Viele vermutete Todesursachen wie HIV und Krebs konnten ausgeschlossen werden. Auch nach konventionellen Giften und Schwermetallen wurde vergeblich gesucht. Auf die Idee, Arafat könnte mit einem radioaktiven Stoff vergiftet worden sein, kam natürlich niemand.

Letztlich wird sich die Frage, ob Arafat mit Polonium vergiftet wurde, nur mithilfe einer Exhumierung beantworten lassen. In seinen sterblichen Überresten müsste dann ebenfalls eine große Menge des Polonium-Isotops gefunden werden. Es ist nun ausgerechnet die Witwe des ehemaligen Präsidenten, Suha Arafat, die eine schnelle Exhumierung fordert. Dabei schien sie 2004 so gar kein Interesse an der Aufklärung der Todesursache gehabt zu haben: Die behandelnden Ärzte durften ausschließlich mit ihr sprechen, sogar eine Autopsie der Leiche verhinderte sie erfolgreich. Nun hat sie die von dem Schweizer Labor untersuchten Kleidungsstücke und Gegenstände ihres Mannes an al-Dschasira übergeben und fordert schnellstmögliche Aufklärung.

In Ramallah legt man ihr keine Steine in den Weg: Ein Sprecher von Präsident Mahmud Abbas sagte, es gebe weder politische noch religiöse Gründe gegen eine Exhumierung. Die Israelis scheinen der Untersuchung nicht besonders beunruhigt entgegenzusehen: Avi Dichter, zum Zeitpunkt von Arafats Tod Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, sagte nur, der Schlüssel für die Aufklärung läge bei den Palästinensern. Der Leichnam befinde sich ja schließlich in Ramallah.