Balten machen den Südländern vor, wie man mit Konsequenz und Tempo Probleme bewältigen kann. Präsident Ilves ist heute zu Besuch in Berlin.

Warschau. Diese Gelegenheit zum Schaukampf hat sich Toomas Hendrik Ilves nicht entgehen lassen. Estlands Staatsoberhaupt, das heute auf Einladung von Bundespräsident Joachim Gauck nach Berlin kommt, sah sein Land von ungerechter Kritik beschmutzt. Paul Krugman, der amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger, hatte in seinem Blog geschrieben, die Republik, die Anfang 2011 als erste des Baltikums den Euro eingeführt hatte, sei mit ihrer strengen Sparpolitik keineswegs so gut durch die Krise gekommen, wie oft behauptet werde. "Es gab einen schrecklichen Einbruch von den Ausmaßen einer Depression, danach eine wesentliche, aber immer noch unvollständige Erholung."

Ilves schäumte vor Empörung. Und nicht nur das: Der Präsident schoss zurück. Sein Temperament, seine Weltläufigkeit (er wuchs als Flüchtlingskind in den USA auf), seine Erfahrung als Journalist und die bekannte Affinität der Esten zur Cyber-Verteidigung ließen es ihm geraten erscheinen, auf Twitter zu antworten. Er lästerte in gepfeffertem Englisch über den Ökonomen, der da glaube, den "dummen Osteuropäern" ohne Widerspruch Lehren erteilen zu können. Dagegen stellte Ilves heraus, wie die Reformpolitik der Nationen im Osten der EU, gerade im Baltikum, wirklich aussehe: "Sie tun, was sie beschlossen haben, und sie bestätigen verantwortungsbewusste Regierungen im Amt." Ein Schelm, wer in diesen Worten nicht einen Seitenhieb auf die Griechen erkennen wollte. Finanzminister Jürgen Ligi sekundierte: "Das Haushaltsdefizit der USA ist ebenso groß wie jenes Griechenlands. Estland Lehren erteilen zu wollen ist seltsam." Freilich könne Amerika seine Probleme leichter auf andere abwälzen, während Estland stärker von äußeren Faktoren abhängig sei.

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Dagegen nahmen mehrere estnische Wissenschaftler Krugman in Schutz. Der Politologe Ahto Lobjakas sagte dem baltischen Internetportal "delfi", Krugman habe nur eine wirtschaftliche Analyse vorgetragen, die emotionale Reaktion des Präsidenten dagegen "sprengt jeglichen Rahmen". Ilves solle sich bei Krugman entschuldigen. Der linke Oppositionsführer Edgar Savisaar setzte noch eins drauf: Ilves' intolerante Reaktion auf den Kritiker Krugman wirke geradezu nordkoreanisch. Das "unwürdige Geschwätz" des Präsidenten werde in der Welt hoffentlich dazu führen, das vermeintliche "estnische Wirtschaftswunder" und die schädliche Regierungspolitik realistischer zu beurteilen.

Worum geht es? Das Baltikum war im EU-Vergleich während der Finanzkrise am härtesten getroffen worden. Im schlimmen Jahr 2009 sank die Wirtschaftsleistung dramatisch (Estland: minus 14,3, Lettland: minus 17,7, Litauen: minus 14,8 Prozent). Doch im nächsten Jahr wurde zumindest der Trend gestoppt. 2011 gab es solides Wachstum (Estland 7,6, Lettland 5,5, Litauen 5,9 Prozent). Allerdings hat, wie Krugman zu Recht sagt, bisher noch keines der Länder die Wirtschaftsleistung der Zeit vor der Krise erreicht.

Brisant sind auch andere Zahlen: Die Arbeitslosigkeit erreichte ihren Höchstwert in der Region 2010 in Lettland (19 Prozent), ist jedoch seitdem überall um etwa vier Prozentpunkte gesunken. Die Inflation konnte halbwegs stabil gehalten werden. Das erstaunlichste: Die Balten hatten trotz Krise die Staatsverschuldung im Griff. In Estland, das in den fetten Jahren vor der Krise eine Haushaltsreserve angelegt hatte, sank die Gesamtverschuldung 2011 weiter auf phänomenale sechs Prozent des BIP, während Lettland und Litauen mit knapp 40 Prozent auf ihrem hohen Niveau blieben.

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Dass die Haushalte nicht auseinanderbrachen, hatte seine Gründe: Die liberal-konservativen Regierungen kürzten die Gehälter im öffentlichen Dienst um mindestens 20 Prozent und entließen Personal. Der Durchschnittslohn (vor Steuern) im Baltikum, in Lettland zuletzt umgerechnet 633 Euro, ist immer noch unter dem Vorkrisen-Niveau - wiederum mit Ausnahme Estlands, wo er jedes Jahr unbekümmert wuchs. Die Schnelligkeit der Spar-Politik sei entscheidend gewesen für die rasche Erholung, sagt heute der lettische Nationalbankchef Ilmars Rimsevics. Dass die Arbeitslosigkeit nicht noch höher lag, ist ebenfalls erklärbar: In sechsstelliger Zahl sind Balten als Arbeitsmigranten ins Ausland gegangen, vor allem nach Großbritannien und Irland. Allein Lettland verzeichnete im Jahr 2010 einen Bevölkerungsrückgang von fast einem Prozent, knapp zur Hälfte durch Migration verursacht.

Die nächste Frage: Warum kam es nicht, wie in Griechenland, zu Straßenschlachten? Warum wurden die Sparregierungen in Estland und Lettland 2011 im Amt bestätigt? Eine Erklärung könnte sein, dass der Erfahrungshorizont im Baltikum ein anderer ist. Im Gespräch hört man Sätze wie diesen: "Krise? Die hatten wir, als unsere Väter nach Sibirien deportiert wurden." Zugleich ist die Freude darüber noch frisch, dass die EU-Mittel dem Land eine ständige Stabilisierung geben. Netto fließen aus Brüssel pro Jahr etwa 2,5 Milliarden Euro ins Baltikum. Erst am 12. Juli wird Estlands Staatsgerichtshof über den Beitritt zum Rettungsschirm ESM entscheiden, danach wird das Parlament darüber abstimmen. "Seit 2009 sind wir Balten auf alle möglichen Schocks gut vorbereitet", sagte kürzlich Litauens Premier Andrius Kubilius. Dennoch herrscht Besorgnis. Noch wichtiger als die Euro-Krise ist derzeit aber der EU-Haushalt für die Periode 2014-20. Wenn dort gespart werde, heißt es, werde das Wachstum leiden. Mehr als 60 000 baltische Landwirte forderten mit einer Petition Direktbeihilfen mindestens in Höhe des EU-Durchschnitts. Es könne nicht sein, dass die lettischen Bauern, wie bisher, 97 Euro pro Hektar bekämen, die Griechen dagegen 384 und die Holländer 457, rechnete ein Bauernvertreter vor.

Unterdessen bleiben die Griechen ihrem Krisen-Management treu: Fast keine Auflagen aus dem Sparpakt erfüllt, kaum Reformen eingeleitet, und jetzt kommt die Geldgeber-Troika wieder und stellt Fragen. Athen steht vor harten Verhandlungen mit den Vertretern von EU, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Dabei hofft die neue Regierung unter dem Konservativen Antonis Samaras aber vor allem darauf, dass das rigide Sparprogramm etwas gelockert wird. Druck auf die neue Regierung gibt es auch von unten: Mehr als jeder zweite junge Mensch in Griechenland ist arbeitslos. Jeden Tag schließen Dutzende Geschäfte. Die Arbeitnehmer haben in den vergangenen drei Jahren fast 50 Prozent ihres Einkommens eingebüßt.