In einem ergreifenden Staatsakt haben sich die Tschechen von ihrem früheren Präsidenten verabschiedet. Staatsgäste und Prominente kamen

Prag/Hamburg. Mit der Geschichte ist es wie mit der Physik: Wer das große Ganze verstehen will, der muss die Kleinigkeiten kennen. Fünf Tage trauern die Tschechen um den am vergangenen Sonntag verstorbenen Ex-Präsidenten Vaclav Havel. Überall im Land läuten die Glocken, drei Minuten lang. Die Bahn bringt Menschen aus dem ganzen Land in Sonderzügen nach Prag. In Blumenläden sind Blumen ausverkauft. Die Kinos zeigen kostenlos Dokumentationen über Havels Leben. Der Höhepunkt: das Requiem im Veitsdom und 21 Salutschüsse - die Tschechen feiern einen Staatsakt wie für einen böhmischen König.

1000 Gäste kommen auf die Prager Burg. Es sind Präsidenten, Schauspieler, Taxifahrer, Studenten. 900 Polizisten sind in der Stadt im Einsatz. Über der Hektik auf den Straßen liegt eine schwere Decke der Melancholie. Sie zieht sich durch die Stadt wie die Moldau. Die Trauerfeier wird sich als historisch in die Annalen des Landes einschreiben. Viele Kleinigkeiten dieser Trauerfeier verraten, welcher Mensch, welcher Politiker Vaclav Havel war und warum sein Tod eine solche Wirkung hatte - in Tschechien, in der Welt.

Ein paar Meter entfernt vom Veitsdom, wo die Gäste vor dem aufgebahrten Sarg trauern, Meter entfernt von den Leinwänden vor dem Dom, wo Tausende Menschen den Gottesdienst verfolgen, da stehen Kerzen, liegen Blumensträuße und Abschiedsbriefe vor einer Statue. Es sind Blumen und Kerzen für Havel - aber die Statue ist ein Denkmal für Thomas G. Masaryk, den ersten Präsidenten der Tschechoslowakei.

Das Kapitel der modernen tschechischen Geschichte, es ließe sich auch entlang dieser beiden Personen erzählen, Masaryk und Havel. Der eine, Staatsgründer einer ersten unabhängigen Nation und Präsident von 1918 bis 1935. Der andere, Havel, führte die Tschechen und Slowaken mit der Samtenen Revolution in eine neue Unabhängigkeit von der Herrschaft der Sowjetunion. Masaryk und Havel - sie werden in diesen Tagen oft miteinander verglichen. Vaclav Havel trat seine Präsidentschaft im Dezember 1989 mit denselben Worten an, mit denen Masaryk 1918 seine erste Rede als Präsident an die Nationalversammlung begann: "Deine Regierung, o Volk, ist zu dir zurückgekehrt."

Im Dom, beim Gottesdienst, verrät die Gästeliste weitere Details. Bundespräsident Christian Wulff ist da, Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy. Und: die frühere Außenministerin der USA, Madeleine Albright. "Für dich war der Kampf um Freiheit immer nur ein Mittel zu etwas Höherem, zur Wahrheit", sagt sie in ihrer Rede über Havel. Albright ist in Prag geboren, ihr Vater Josef Korbel war tschechoslowakischer Diplomat. 1948, nach dem kommunistischen Staatsstreich, floh die Familie Korbel ins Exil. Madeleine Albright hat ihre Herkunft nie vergessen, immer wieder besucht sie Prag. Havel hat mit seinem Kampf um Freiheit Albright auch ihre Heimat zurückerobert. "Als Weltbürger brachte er Licht in die dunkelsten Räume", sagt Albright. Vielleicht ist es in Zeiten der Euro-Krise gerade die Sehnsucht nach Weltbürgern, die erklärt, warum nicht nur die Tschechen um einen wie Havel trauern.

Auch die aktuelle US-Außenministerin ist gekommen, Hillary Clinton, gemeinsam mit ihrem Ehemann Bill. Sein Besuch als Präsident in Prag im Jahr 1994 ist unvergessen, weil er beim Altstadtbummel mit Havel in einer Jazzkneipe zum Saxofon griff. Es sind Fußnoten einer Präsidentschaft, die zeigen, dass Havel der etwas andere Politiker war. Überhaupt wurde er nur Staatsmann wider Willen, setzte sich an die Spitze, als die friedlichen Revolutionäre 1989 eine starke Figur suchten. Eigentlich ist Havel Künstler, Dichter. Und so verstand er auch seine Amtsführung, fachsimpelte nicht nur mit seinen europäischen Kollegen, sondern auch mit Rockmusikern wie Mick Jagger von den Rolling Stones und Frank Zappa. "Wahrheit und Liebe werden über Lüge und Hass siegen", verliest Tschechiens Außenminister Karel Schwarzenberg bei der Feier Havels Wahlspruch. Nicht viele Politiker konnten so emotionalisieren wie Havel. Auch das ist sein Verdienst: Menschen bewegen. Für sein Land, für Frieden, für Europa.

Vor dem aufgebahrten Sarg im Dom stehen Havels Witwe Dagmar und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Ivan. Papst Benedikt XVI. sandte ihnen ein Grußwort, das im Dom verlesen wird. Als der Wagen mit Havels Sarg von der Prager Burg in Richtung Friedhof fährt, applaudieren die Menschen am Straßenrand. Sein letzter Weg. Am Mittwoch wurde der Sarg auf die Burg gefahren, auf einer Haubitzen-Lafette aus dem Ersten Weltkrieg. Genau wie einst beim Staatsgründer Masaryk. Er starb 1937. In dem Jahr, in dem Vaclav Havel geboren wurde. Es sind die Kleinigkeiten.

Fotogalerie und ein Video vom bewegenden Abschied in Prag unter www.abendblatt.de/havel