Weltweit sind 44 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Politik hat keine Antworten auf die Folgen der Arabellion. Helfer sind in Lebensgefahr

Hamburg. An der Grenze zwischen Italien und Frankreich stehen die Züge still. Stundenlang geht es nicht voran. Französische Grenzposten patrouillieren durch die Abteile. Sie sind auf der Suche nach Tunesiern, die mit Sonderpässen von Italien aus nach Frankreich einreisen wollen. Aus Frankreichs Sicht ist diese Aktion im April 2011 illegal. Andere europäische Länder, darunter auch Deutschland, haben für das Vorgehen Frankreichs Verständnis. Italien müsse mit den mehr als 23 000 Menschen selbst zurechtkommen, die nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine bel-Abidine Ben Ali nach Italien geflohen seien. Rom könne nicht einfach seine Flüchtlinge auf andere Staaten umverteilen. Niemand will diese Menschen haben, denen im eigenen Land Gewalt und Tod drohen.

Das Jahr 2011 brachte vielen arabischen Ländern eine Revolution. In Ägypten und Tunesien endeten Diktaturen. Doch mit dem Ende der Herrscher kam auch eine Frage wieder auf die Agenda der europäischen Politik: Wie geht der Kontinent um mit den Flüchtlingen aus Afrika, aus Nahost?

Die Regime von Ben Ali und Husni Mubarak waren mit ihren strikten Grenzkontrollen für die EU auch immer Stabilisatoren in einer Region, aus der Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa drängen. Nun sind die Diktaturen weg und mit ihnen auch die rigiden Sicherheitsapparate. Doch nicht nur in der arabischen Welt, auch in Afghanistan, Irak und Somalia kämpfen Menschen um das Überleben - für sie ist die Flucht ein Ausweg. Fast 44 Millionen Menschen suchten im Jahr 2011 diesen Weg. Für Europa sind diese Konflikte nicht etliche Kilometer entfernt. Die Flüchtlinge tragen diese Krisen noch stärker in die Tagespolitik der europäischen Staaten und die Politik der EU.

In dieser Woche stellte der Europäische Gerichtshof fest: Flüchtlinge dürfen nicht zwangsweise in das Land zurückgeschickt werden, in das sie zuerst eingereist sind. Das gilt auch für Deutschland, dessen Asylpraxis im Zuge der Flüchtlingsströme aus Nordafrika stark kritisiert worden war. Deutschland hatte sich geweigert, Flüchtlinge aufzunehmen, die über Griechenland aus Tunesien, Libyen oder Ägypten kamen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte Griechenland unwürdige Behandlung der Flüchtlinge vorgeworfen. Deutschland könne diese nicht einfach abweisen. "Doch die Reaktion der EU-Staaten auf den Hilferuf des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen ist beschämend", sagte Wolfgang Grenz, der Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty. "Nur sieben EU-Staaten wollen einige Flüchtlinge aufnehmen, Deutschland ist nicht darunter."

Wie Frankreich gehört auch Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt. Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt könnten sie noch viel mehr Menschen aufnehmen, meint Rouven Brunnert, Sprecher des Uno-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR. Die wirklich gebeutelten Länder seien solche, die selbst wirtschaftlich zu kämpfen haben. Wie Pakistan. Dorthin fliehen Menschen, die in Afghanistan keine Zukunft haben. Nach Berechnungen des UNHCR sind es mittlerweile mehr als 1,9 Millionen Flüchtlinge. Freiwillig zurückkehren will fast niemand. Denn auch wenn Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) von einer leichten Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan spricht, ist das Land alles andere als krisensicher. "Die Dörfer und Felder sind zerstört. Wer dorthin zurückgeht, findet dort nichts mehr vor", sagt Brunnert. Die Hilfe wird durch Anschläge erschwert.

So auch im kenianischen Dadaab. Im größten Flüchtlingslager der Welt haben die Vereinten Nationen einige ihrer Aktivitäten eingestellt, nachdem in dieser Woche mehrere Sprengsätze explodierten. Ein Polizist wurde getötet. Die Täter werden im Umfeld der radikal-islamischen Al-Schabaab-Miliz vermutet, die im Nachbarland Somalia gegen die dortige Übergangsregierung kämpft. Nur zwei Monate zuvor wurden zwei spanische Ärzte verschleppt, die für die Organisation Ärzte ohne Grenzen im Camp arbeiteten. Im Lager leben heute 462 000 Männer, Frauen und Kinder. Ausgelegt war es ursprünglich für ungefähr 80 000. Und täglich schleppen sich 1000 Neuankömmlinge nach Dabaab - ein Zustand, der erst durch die katastrophalen Folgen der diesjährigen Dürre mehr Aufmerksamkeit erlangt hat. Es ist eine stille Katastrophe. "Die internationale Staatengemeinschaft hat erst gehandelt, als die Hungerkrise die Situation zusätzlich verschlimmert hat", sagt Brunnert vom UNHCR. Neben Cholera-Ausbrüchen bekämpft die Organisation auch die wachsende Kriminalität. "Bei der extremen Größe des Camps steigt auch das Gewaltpotenzial. Wir müssen auch unser eigenes Personal schützen."

Im somalischen Mataban wurden am Freitag zwei Mitarbeiter des Uno-Welternährungsprogramms und ein Stadtältester erschossen. Der Täter ist ein Bewohner des Flüchtlingscamps, der sich gestellt hat. Auch hier stoppte die Organisation ihre Arbeit vorübergehend. Und das, obwohl allein in Somalia 250 000 Menschen akut vom Hungertod bedroht sind. "Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, glaubt nicht, wie es dort aussieht", sagt Rainer Lang von Brot für die Welt. Er war im Sommer in Dadaab und in Mogadischu. "Die Häuser sind zerschossen. Mogadischu liegt in Schutt und Asche. Es ist eine bedrückende, apokalyptische Version und einer der schlimmsten Plätze der Welt", sagt Lang. Seit Jahren wird das Land vom Bürgerkrieg geschüttelt.

Von den Europäern verlangt Rainer Lang, dass sie sich stärker engagieren und Gespräche mit den islamischen Milizen zulassen. Nur dann könne sich die Sicherheitslage verbessern. Passiert dies nicht, müssten sich noch mehr Helfer zurückziehen.