Ausland beeindruckt von hoher Wahlbeteiligung. Aber Sorge um den Tourismus

Tunis. Bei den ersten freien Wahlen in Tunesien zeichnet sich ein deutlicher Wahlerfolg der islamistischen Ennahdha-Bewegung ab. In den bereits ausgezählten Wahlkreisen liege die Partei mit einem Stimmenanteil zwischen 25 und 50 Prozent weit vorn, sagte ein Mitglied der Ennahdha-Führung gestern. Eine Sprecherin der sozialdemokratischen PDP bestätigte den Trend. Die Partei lag in Umfragen auf Platz zwei. Das Endergebnis soll erst heute Abend vorliegen. Aus dem Ausland gab es Glückwünsche für die ersten Wahlen eines arabischen Landes nach den Umstürzen im Frühling und für die unerwartet hohe Wahlbeteiligung von angeblich mehr als 90 Prozent.

Liberale Tunesier fürchten im Falle einer islamistischen Regierung einen für sie dramatischen Wandel des Landes - bis hin zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot. Die Ausrichtung der Islamisten bleibt aber in vielen Bereichen unklar. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahdha-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen Regierungspartei AKP.

Neun Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Zine al-Abidine Ben Ali waren rund sieben Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, die 217 Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung zu bestimmen. Diese soll einen neuen Übergangspräsidenten ernennen und ein Grundgesetz erarbeiten. Insgesamt kandidierten 11 618 Bewerber. Die Ennahdha von Islamistenführer Rachid Ghannouchi war unter Ben Ali verboten und ist in der Bevölkerung stark umstritten. Vor allem liberale Frauen fürchten eine Machtübernahme der Islamisten.

Mit großer Sorge wird die Ennahdha-Diskussion auch in der Tourismusbranche gesehen. Nach den Revolutionsunruhen brach das Urlaubergeschäft um knapp die Hälfte ein. 22 000 Arbeitsplätze gingen verloren, davon 3000 Vollzeitstellen. Aus Angst vor neuer Gewalt meiden bis heute viele Europäer die Strände auf Djerba. Bei einer Islamisierung des Landes bestehe die Gefahr, dass die Strände leer blieben. Trotz der Einschränkungen vieler Bürgerrechte galt Tunesien unter Ben Ali als eines der fortschrittlichsten Länder in Nordafrika. In keinem anderen Staat der Region hat der weibliche Teil der Bevölkerung so viele Rechte.

Nach Angaben von EU-Wahlbeobachtern verlief der historische Tag im Großen und Ganzen problemlos. "Es gab vereinzelte Unregelmäßigkeiten, aber das waren alles Dinge, die in keiner Weise dramatisch sind", sagte Delegationschef Michael Gahler. Als nicht optimal bezeichnete der deutsche Europaabgeordnete die stundenlangen Wartezeiten vor den Wahlurnen. Sowohl in Tunesien als auch im Ausland wurde die Abstimmung als wichtige Bewährungsprobe für die Revolutionsbewegung in der ganzen arabischen Welt gewertet. Im Januar hatten die Tunesier als erstes Volk in der Region gegen die autoritäre Herrschaft ihrer Führung rebelliert. Da seitdem auch die Ägypter und Libyer ihre Langzeitherrscher stürzten, gilt Tunesien als Mutterland des Arabischen Frühlings.

In Libyen bemühen sich die neuen Machthaber nach dem Tod Gaddafis, Bedenken über eine Hinwendung des Landes zum radikalen Islam zu zerstreuen. Libyer seien moderate Muslime, beteuerte der Chef des Übergangsrats, Abdel Dschalil. Zuvor hatte er allerdings verkündet, dass die Scharia die Grundlage des künftigen Rechtssystems bilden werde. Alle Gesetze, die gegen die strengen islamischen Vorgaben der Scharia verstoßen, seien nicht mehr rechtskräftig, sagte Dschalil in einer Rede an die Nation. Mithin auch die Ehegesetze, sodass jeder Mann künftig vier Frauen haben dürfe. Zudem solle ein Bankensystem nach islamischem Recht eingeführt werden.

Gestern stoppte der Übergangsrat die öffentliche Zurschaustellung des erschossenen Diktators. Der Leichnam Gaddafis, der mehrere Tage im Fleischkühlhaus eines Einkaufszentrums in Misrata lag, soll nach Informationen des arabischen Nachrichtensenders al-Arabija heute an "einem geheimen Ort in der Wüste" beerdigt werden.