Libyens Hauptstadt ist in der Hand der Aufständischen. Gaddafi: “Kampf bis zum letzten Blutstropfen“. Regierung bietet Rebellen sofortige Verhandlungen an

Tripolis. Sie springen über Mauern, robben unter Stacheldraht und klettern Häuserwände hoch. Der Ausbilder schießt mit scharfer Munition über ihre Köpfe, damit sie sich an den "Sound" gewöhnen, wie er sagt.

Trotz über 30 Grad im Schatten sind die etwa 35 Rekruten mit Übereifer bei der Sache. Die meisten der jungen Männer sind aus Kanada, Großbritannien, Frankreich oder den USA nach Libyen zurückgekommen, um ihr Heimatland zu befreien. Sie gehören zur Tripolis-Brigade, die speziell für den Einsatz in der Hauptstadt gegründet wurde. "Alle sind in Tripolis aufgewachsen", sagt Khaled Ramadan, der Manager des Ausbildungslagers in Nahlut, einer Kleinstadt, etwa 70 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt. "Ortskenntnisse sind die Grundlage für einen erfolgreichen Kampf", fügt der 37-Jährige an, der vor Beginn der libyschen Revolution als Informatiker in Irland arbeitete. Alle Rekruten tragen Masken, um unerkannt zu bleiben. "Sie haben Angst um ihre Familien, die noch in der Hauptstadt sind", erklärt Ramadan. "Aber damit ist bald Schluss, denn Gaddafi ist am Ende." Der Manager lächelt zufrieden. Die Männer brennen auf ihren ersten Kampfeinsatz. Gerade jetzt, da die militärische Lage, sechs Monate nach Beginn des Aufstands gegen Gaddafi, das Ende des Diktators verspricht.

Tripolis ist von allen Nachschubwegen abgeschnitten. Nahrungsmittel sind knapp und werden immer teurer. Banken und Regierungsbüros bleiben meist geschlossen, der Strom fällt immer wieder aus, Benzin ist schon seit Monaten Mangelware. Tag für Tag fallen Bomben der Nato-Kampfflugzeuge. Seit einer Woche flüchten viele Zivilisten aus der Stadt.

Der Schlüssel zum Erfolg der Rebellen aus den Nafusa-Bergen liegt in ihrer Geschlossenheit, Organisation und Disziplin. Im Kampf folgen sie den Anweisungen ihrer Anführer, die sich aus altgedienten Offizieren der libyschen Armee zusammensetzen. Im Osten Libyens, entlang der Küste, erschwert die Vegetation ein militärisches Fortkommen. Auf der Ebene, die sich an die Nafusa-Berge anschließt und bis nach Tripolis reicht, ist dies kaum möglich. Innerhalb nur eines Tages hatten die Nato-Kampfflugzeuge die Panzer ausgeschaltet, die die Eroberung von Zawyiah durch die Rebellen aus den Bergen hätten verhindern können.

Ohne den Einsatz der Nato wäre die Militäroperation der Rebellen nie so schnell und relativ unblutig möglich gewesen. Allein am Sonnabend griffen die Kampfjets 22 Ziele in Tripolis an. Gestern um kurz vor Mitternacht standen die Regimegegner im Zentrum der libyschen Hauptstadt. Zuvor hatten sie sich mit den Regierungstruppen in mehreren Stadtvierteln heftige Gefechte geliefert. Nach Spekulationen über seine Flucht aus Tripolis meldete sich Machthaber Gaddafi am Abend im Staatsfernsehen zu Wort und rief die Libyer dazu auf, die Hauptstadt "bis zum letzten Blutstropfen" zu verteidigen. Dabei war der Diktator selbst nicht zu sehen. Er versicherte aber, er sei noch in Tripolis, und seine Truppen würden niemals aufgeben. Zuvor hatte es Gerüchte gegeben, er habe die Hauptstadt längst in Richtung algerischer Grenze verlassen.

Augenzeugen berichteten, die Rebellen hätten in Tripolis den internationalen Verkehrsflughafen eingenommen sowie den Militärflughafen Mitiga. Tausende Aufständische rückten weiter auf die Hauptstadt vor. In einer monatelang vorbereiteten Kommandoaktion hatten sich in der Nacht zum Sonntag Zellen der Rebellen in Tripolis erhoben. Als Signal galt offenbar der Aufruf muslimischer Geistlicher an die Bewohner der Hauptstadt, auf die Straße zu gehen. Ziel sei es, sich mit den anderen Aufständischen aus Misrata und Slitan am Grünen Platz im Zentrum von Tripolis zu vereinigen. Unter dem Eindruck der drohenden Niederlage forderte die libysche Regierung noch in der Nacht die Rebellen zum Ende ihrer Offensive auf und bot sofortige Verhandlungen an. Gaddafi sei bereit, direkt mit dem Chef des Übergangsrates zu verhandeln, sagte ein Regierungssprecher.