Es gibt den Eindruck, dass kein Land schlechter über sich selbst spricht als Italien. In Wirklichkeit finden Italiener nichts toller als sich selbst.

Rom. Immer wenn mein Blick auf Deutschland leicht getrübt und mir nach Aufmunterung zumute ist, gibt es ein Mittel, das garantiert wirkt: Ich rufe meinen Freund Stefano an und frage ihn nach Italien. Kaum nimmt er den Hörer ab, quillt es auch schon aus ihm raus. Diese verfluchten Vollidioten, diese Bastarde in Regierung und Opposition, Gewerkschaften und Kurie, Mafia und Müllentsorgung, eine einzige schäumende Gülle! Che miseria, sein Land!

Da ich eine Weile in Italien gelebt habe und dort oft unterwegs bin, darf ich sagen, mein Freund Stefano steht mit dieser Ansicht nicht allein, im Gegenteil. Seit Jahren schon verfestigt sich der öffentliche Eindruck, dass kein Land der Welt schlechter über sich selbst spricht als Italien. Ausgerechnet Italien. Im Selbsthass waren doch eigentlich wir die Weltmeister. Und nicht das Land der Zitronenblüte, Ort der Verheißung für Generationen sinn-, sonnen- und sinnesfreudensuchender Mitteleuropäer. Heute, da wir langsam zu schüchternem Patriotismus zurückfinden, singt Italiens versammelte Kulturelite die Ballade von der glorreichen Nation, die in den Kanal geplumpst ist. Komiker Roberto Benigni sehnt sich Silvio Berlusconi öffentlich "in die Hölle", Sängerin Milva spricht ihm jede Intelligenz ab, Blogger Beppe Grillo organisiert "Vaffanculo Days" wider die Teilnahme an Wahlen, und der Unidirektor Pier Luigi Celli rät in einem offenen Brief seinem geliebten Sohn, der kurz vorm Uni-Abschluss steht, doch besser dieses Land zu verlassen, "auf das man nicht mehr stolz sein kann". Wir Deutschen hassen uns immer weniger, Italien bemitleidet sich mehr denn je.

Was man dabei allerdings leicht vergisst, ist, dass es im Grunde immer schon ähnlich war. Seit ich denken kann, jagt jenseits der Alpen eine Krise die andere. Erst Craxi und Andreotti, dann Mafiakriege, Falcone-Borsellino-Attentat, die äußerlich runderneuerte, innen uralte Zweite Republik, Streiks ohne Ende, Nepotismus überall, Venedig vorm Untergang, das Fernsehen ein Graus, die Opernhäuser perdu, Krise der Gewaltenteilung, Mediokratie, Alitalia, Fiat, Parmalat, Gianni Versace. Hätte ich vor 20 Jahren meine amici gefragt, wie es um Italien steht, hätten sie ganz sicher gesagt, ziemlich schlimm. Reden von der Krise gehört zum Wesen der Italiener wie der Büffel zum Mozzarella oder Pompeji zum Vesuv.

Bei der Frage nach den mentalen Gründen für solch längerfristige Larmoyanz beginnt man am besten in Rom. Die Italiener sehen sich, man vergisst das leicht, nämlich in direkter Linie zu den Imperatoren, die gefühlte Nähe zu Caesar und Cicero ist weitenteils größer als zu Mazzini und Garibaldi, den Vätern der Republik Italien. Woraus wiederum zweierlei folgt: Italien war einst der Nabel der Welt, das größte, am längsten dauernde europäische Weltreich, dort ist sein Platz, als Numero uno, alles andere ist ein Abstieg. Und zweitens: Dieser Staat, diese sogenannte Republik, die in Wirklichkeit vom piemontesischen Norden aus gegründet und geformt wurde, ist uns entweder schnuppe oder suspekt. Diese Rückwärtsgewandtheit, gepaart mit großer Distanz zum staatlichen Status quo ist vielfach spürbar, im Mangel innovativer Impulse macht sich solcher Retro-Geist auf vielen Feldern bemerkbar, in den einstigen Paradefeldern Literatur und Film, Musik und Oper konnte Italien zuletzt kaum mehr Akzente setzen. Nobelpreisträger in den letzten 50 Jahren: Italien 9, Deutschland 39.

Zu diesen Wesensarten kommen echte Strukturwandel hinzu, die Italien härter treffen als andere Länder. Vettern-, Schattenwirtschaft und Mafiaherrschaft sind tatsächlich immens und erzeugen in global finanzierten Unternehmen kein optimales Investitionsklima. Erst recht nicht, wenn das Land von jemandem geführt wird, der so offensichtlich und unverblümt Politik in eigener Sache macht und seinem Land das womöglich richtungsweisende Politiksystem des "medialen Populismus" (Umberto Eco) implementiert. Zu dessen Grundregeln zählt: Man darf alles behaupten, wenn es sich gut anhört (und gut aussieht). Und zweitens, Signori, sind wir nicht alle Sünder?

An dieser Stelle beginnt die Sache mit dem Krisengerede interessant zu werden, denn ihm wohnt ein großer doppelter Boden inne. Der Großteil der Jammer-Italiener, die bei uns Gehör finden, sind nämlich in zweierlei Hinsicht untypisch: Entweder sie zählen zur Kulturelite (eine verschwindende Minderheit) oder aber sie erzählen nur die halbe Wahrheit. Sprich, sie führen vor dem rechtschaffenen Ausländer ihren kritischen Geist spazieren, beim nächsten Mal im Wahllokal machen sie ihr Kreuz doch wieder bei Berlusconi.

Denn das ist zugleich die bitterste Pille für alle Italien-Romantiker: Berlusconi regiert das Land nicht nur, er repräsentiert es auch, politisch wie mental. In ihm spiegeln sich, ihn bewundern weite Teile der Bevölkerung, die der sehr italienischen Idee anhängen, individueller Erfolg und gesetzmäßiges Handeln passten nicht zusammen. Der Schriftsteller Roberto Saviano, das zurzeit populärste Gesicht des "anderen Italien", brachte diese Geisteshaltung jüngst in einem viel beachteten Essay auf den Punkt. Berlusconi werde für authentisch, andere für "Heuchler" gehalten, schreibt Saviano, weil sich in seinen Widersprüchen, seiner Unmoral und Lasterhaftigkeit das Volk erkennt. Sex mit gerade mal volljährigen Prostituierten? Wir sind doch keine Engel, und toll, dass unser Premier mit Mitte 70 noch so potent ist! Er maßschneidert Gesetze zum persönlichen Vorteil? Würden wir doch alle gern. "Und wenn wir schon alle im Schlamm wühlen und nur noch eklig sind, dann soll wenigstens der Beste gewinnen. Das ist der Sieg der Berlusconismus", so Saviano.

Und zugleich das Gütesiegel einer italienischen Mentalität, die mit Vorliebe Erfolg über Ehrlichkeit, Schlawinertum über freie Marktwirtschaft, Potenz über Political Correctness stellt. In der jeder zweite Mann davon träumt, am Erfolg des großen Unternehmers Silvio B. eines Tages zu partizipieren, indem er einfach besser bescheißt als die anderen. Und in der ansonsten fürs Leben gern Theater spielt gespielt wird.

Eine solche Theaterposse ist nicht zuletzt auch das stetig wiederkehrende Krisen-Drama. In Wirklichkeit ist die Lage der siebtgrößten Volkswirtschaft alles andere als dramatisch. Ja, die Schulden sind hoch, aber das sind sie schon seit den 80er-Jahren. Ja, das Wachstum ist enttäuschend, dafür sind die Arbeitslosenzahlen niedrig, die Eigenkapitalquote ist hoch und der Immobiliensektor stabil, die Neuverschuldung gering.

Darüber hinaus ist Italiens Nahrungsmittel-Industrie beispiellos erfolgreich. Als Einziger gelang es ihr, "Made in Italy" weltweit in den Alltagsgebrauch zu überführen. In welcher Bar kriegt man keinen Cappuccino, in welchem Supermarkt keine Barilla-Nudeln, Parmiggiano oder Vino Nobile di Montepulciano? Von Mode-Labels wie Armani oder D&G mal ganz abgesehen.

Und das ist auch der Punkt, in den die Telefonate mit meinem Freund Stefano meist münden. früher oder später lässt er durchblicken, dass seine Landsleute zwar üble "cretini" seien - aber er nie auf die Idee kommen würde, jemand anderer sein zu wollen als Mann aus Italien, der Numero uno, Geburtsort der Pizza und des Catenaccio. Dem Land, wo man sich Abende lang darüber streiten kann, ob sich zum Tomaten-Salbei-Sugo nun besser Tortiglioni eignen oder doch besser Penne Rigate. Dem Land also, das so schrecklich gern Tragödien aufführt. Und dabei nichts und niemanden so toll und unwiderstehlich findet wie sich selbst.