120 Soldaten sterben. Regime spricht dagegen von Hinterhalt bewaffneter Banden

Hamburg/Damaskus. Die Lage in Syrien hat sich weiter verschärft. Unter ungeklärten Umständen sind in der Provinz Idlib im Nordwesten des Landes vermutlich mehr als 120 Soldaten ums Leben gekommen. Es wäre die höchste Zahl an Opfern in den eigenen Reihen, die seit Beginn der Proteste in Syrien Mitte März vom Regime des Präsidenten Baschar al-Assad je genannt wurde. 45 Schwerverletzte wurden nach Angaben von Helfern vor Ort in ein Krankenhaus der türkischen Stadt Antakya gebracht. Einige von ihnen seien während der Fahrt gestorben.

Über den Hergang der Ereignisse gibt es allerdings stark abweichende Darstellungen. Das Staatsfernsehen berichtete, "bewaffnete Banden" hätten ein Massaker an Sicherheitskräften verübt, die zum Schutz der Zivilbevölkerung in der Stadt Dschisr Al-Schogur eingesetzt gewesen seien. Die Soldaten seien aus dem Hinterhalt mit Maschinenwaffen und Raketenwerfern ermordet und ihre Leichen verstümmelt worden. Es seien zudem Verwaltungsgebäude in Brand gesteckt und fünf Tonnen Sprengstoff entwendet worden.

Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten erzählten dagegen eine ganz andere Geschichte. Danach sei es zu einer Meuterei in der Armee gekommen. Grund sei das brutale Vorgehen der Militärs in Dschisr Al-Schogur und Umgebung gewesen, bei dem am Sonntag 40 Menschen getötet worden seien. Soldaten, die sich geweigert hätten, auf unbewaffnete Zivilisten zu feuern, seien exekutiert worden. Der arabische Fernsehsender al-Dschasira strahlte ein Interview mit einem Uniformierten aus, der angab, er sei Oberleutnant in der syrischen Armee in der Stadt Rastan gewesen, nun aber zu den Rebellen übergelaufen, weil er nicht auf Zivilisten schießen wolle. "Nach den Verbrechen in Deraa und anderen Städten im ganzen Land kann ich nicht mehr in der syrischen Armee bleiben", sagte der Offizier und rief die Soldaten des syrischen Regimes dazu auf, ebenfalls zu desertieren. Allein in der Stadt Deraa hatte die Armee Ende März mehr als 100 protestierende Menschen erschossen. Insgesamt sind seit Beginn der Revolte rund 1300 Menschen in Syrien getötet worden.

Der private amerikanische Geheimdienst Stratfor zitierte in einem Bericht eine syrische Quelle mit der Einschätzung: "An diesem Punkt muss das Regime im Stil des Massakers von Hama reagieren, wenn es die Proteste vollständig ersticken will. Anderenfalls muss es ernsthafte Zugeständnisse machen - wie Wahlen mit mehreren Parteien und eine begrenzte Amtszeit für den Präsidenten, die das Regime nicht akzeptieren will. Nach dem, was ich gehört habe, wird sich das Regime wohl für die Hama-Variante entscheiden." 1982 hatte Präsident Hafis al-Assad, der Vater des jetzigen Staatschefs, ein Massaker an Oppositionellen - vor allem Angehörigen der islamistischen Muslimbrüder - in der historischen Stadt Hama, 150 Kilometer nordöstlich von Damaskus, befohlen. Sein Bruder Rifat al-Assad, zeitweise Vizepräsident und Verteidigungsminister Syriens, ließ zunächst die Ausfallstraßen von der Luftwaffe bombardieren und die Stadt dann mit Artillerie in Schutt und Asche legen. Bis zu 30 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Das Massaker von Hama ist bis heute ein Tabuthema in Syrien. Am vergangenen Wochenende hatte es in Hama mindestens 34 Todesopfer gegeben, als Soldaten in eine Menge von 50 000 Assad-Gegnern gefeuert hatten. Ein Generalstreik dauerte gestern in Hama den dritten Tag in Folge an.

Während Frankreich in der Uno bereits Unterstützung für eine scharfe Resolution gegen Syrien sammelt, versucht das in Bedrängnis geratene Regime mit Reformversprechen die Revolte aufzuhalten. So verkündete Ministerpräsident Adel Safar, er habe ein Komitee für die Ausarbeitung eines neuen Parteiengesetzes bilden lassen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte von Präsident Assad die Umsetzung seiner Reformversprechen sowie die Freilassung der politischen Gefangenen.