Dennoch startet Libyens Diktator eine neue Offensive

Brüssel/Tripolis. Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi verfügt nach Ansicht der Nato jetzt über 30 Prozent weniger Militärkapazität als vor Beginn der internationalen Luftschläge zum Schutz der Zivilbevölkerung. Dies sagte der Leiter der Operationen im militärischen Nato-Hauptquartier SHAPE, Brigadegeneral Mark van Uhm, in Brüssel. Er bezog sich auf eine entsprechende Mitteilung des Oberkommandeurs, des kanadischen Generals Charles Bouchard.

Gaddafi missbrauche die Zivilbevölkerung als "Schutzschilde", um schwere Waffen, beispielsweise Panzer und Schützenpanzer, vor Angriffen der internationalen Truppen zu schützen. Dies habe ergänzend zu schlechtem Wetter das Vorgehen erschwert. So seien am Montag nur bei 14 von 58 Einsätzen von Kampfflugzeugen die Waffen auch tatsächlich eingesetzt worden. "Wenn unsere Piloten das Ziel nicht sehen können oder wenn sie sehen, dass Menschen als Schutzschilde benutzt werden, dann kommen sie mit ihren Waffen wieder zurück."

Gaddafi schicke seine Soldaten zunehmend in Personenautos oder Kleinlastwagen mit leichten Waffen in den Osten des Landes, um dort gegen die Rebellen zu kämpfen. Panzer und andere schwere Waffen würden in einer "zweiten Reihe" im Zentrum von Städten versteckt. Die Nato habe die Luftaufklärung verstärkt: "Und sobald dieses Material bewegt wird, ist es unser Ziel, und wir werden es treffen."

Die Truppen Gaddafis haben gestern dennoch die Stadt Brega angegriffen und die Aufständischen erneut zurückgedrängt. Mit Panzern und Raketenwerfern beschossen die Regierungstruppen die strategisch wichtige Ölstadt. Erst am Tag zuvor hatten die Rebellen mit Luftunterstützung der internationalen Streitkräfte Brega eingenommen.

Unterdessen rückte das Gaddafi-Regime von seiner kompromisslosen Haltung gegenüber der libyschen Opposition ab. Regierungssprecher Mussa Ibrahim bestand jedoch darauf, dass mögliche Reformen nur von Gaddafi eingeleitet werden könnten. "Wir können jedes politische System, jeden Wechsel haben: Verfassung, Wahlen, alles. Aber der Führer muss den Wechsel vorantreiben", sagte Ibrahim.

In Großbritannien meldete sich ein Gaddafi-Sohn zu Wort: Nach Auffassung von Seif al-Islam verfügt der ehemalige libysche Außenminister Mussa Kussa über keine neuen Informationen zum Bombenanschlag von Lockerbie. In einem vom britischen Fernsehsender BBC ausgestrahlten Interview nannte er Kussa "krank und alt". Seif al-Islam legte nahe, Kussa würde sich "lustige Geschichten" über Lockerbie ausdenken, um straffrei davonzukommen.

Kussa war in der vergangenen Woche nach Großbritannien geflohen und wird dort nun von Regierungsmitarbeitern verhört. Schottische Staatsanwälte sagten bereits, sie wollten Kussa zu dem Lockerbie-Anschlag von 1988 befragen, bei dem 270 Menschen ums Leben kamen. "Briten und Amerikaner wissen alles über Lockerbie. Es gibt keine Geheimnisse", sagte Seif al-Islam.