Familie Gaddafi versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Zu viele Opfer und die internationale Gemeinschaft stehen dagegen

Berlin/Bengasi. Noch ist nicht abzusehen, wie lange das Ringen um die Macht in Libyen dauern oder welche Seite dabei was gewinnen könnte. Während Regierungstruppen und Rebellen auf den Wüstenstraßen zwischen der Hauptstadt Tripolis und der Widerstandshochburg Bengasi immer verbissener um strategische Vorteile kämpfen, arbeitet man überall auf der Welt schon an Schlussszenarien. Nun mehren sich die Anzeichen, dass man selbst in Tripolis schon an eine Zukunft ohne Diktator Muammar al-Gaddafi denkt. Doch das könnte auch eine Finte sein.

Es ist immerhin die angesehene "New York Times", die berichtet, zwei Söhne Gaddafis bereiteten ein Lösungsangebot an die Staatengemeinschaft und die Rebellen vor, bei dem Gaddafi im Austausch für ein Einlenken der Aufständischen die Macht an seinen Sohn Saif al-Islam abgeben würde. Dieser werde dann einen schrittweisen Übergang zur Demokratie einleiten. Während Saif und sein Bruder Saadi als Initiatoren genannt werden, lässt der Bericht aber offen, ob die Offerte mit dem Vater abgesprochen ist. Oder ob sie den Versuch einer Palastrevolte darstellt. Einer der anonymen libyschen Funktionäre, auf den sich das Blatt beruft, deutet an, Muammar al-Gaddafi scheine einverstanden zu sein. Rätselhaft an der Nachricht ist ihr Hauptdarsteller: Saif al-Islam al-Gaddafi.

Auf den ersten Blick ist der 38-Jährige das strahlende Gegenteil seines Vaters: In seiner Heimat studierte der zweite Sohn der zweiten Frau Gaddafis Architektur und erwarb anschließend einen Doktorgrad an der ebenso liberalen wie elitären London School of Economics. Immer wieder ließ der junge Mann mit der goldenen Brille und dem gepflegten Drei-Tage-Bart für einen Diktatorensohn Unerhörtes verlauten, etwa die Warnung, Libyen dürfe nicht zu einer der "Dschungel-Diktaturen" des Nahen Ostens verkommen. Mit einer Demokratie, wie er sie anstrebe, sagte Saif einmal, sei eine dynastische Folge an der Staatsspitze unvereinbar. Dennoch übernahm er schließlich wichtige Verantwortlichkeiten, darunter die Leitung der Gaddafi-Stiftung und als Vermittler bei Entführungsfällen, etwa jenem der deutschen Familie Wallert auf den Philippinen.

Mit der Mischung aus Dissidenz und Gestaltungswillen wurde Saif zu einem Hoffnungsträger. In den Depeschen amerikanischer Diplomaten, die jüngst von der Enthüllungsplattform WikiLeaks offengelegt wurden, schreiben Mitarbeiter der US-Botschaft in Tripolis, "junge libysche Informanten haben immer wieder erklärt, Saif sei die Hoffnung des Libyens von morgen".

Auf Saifs Initiative hin begann auch ein offizieller Diskussionsprozess um die Ausarbeitung einer Verfassung für Libyen. Doch dieser Reformversuch wurde, wie viele andere, von den Hardlinern des Regimes abgewürgt, an deren Spitze Saifs Bruder Muatassim. Der frühere Oberst der Armee und jüngere Bruder Saifs befehligt derzeit die Truppen des Regimes und die Versuche, die Rebellion niederzuschlagen. Kürzlich berichtete die in London erscheinende arabische Tageszeitung "al-Schark al-Aussat", Gaddafi habe die Regierungsgeschäfte ganz in Muatassims Hände gelegt. In der Öffentlichkeit und gerade gegenüber westlichen Medien hatte hingegen seit Beginn der Revolte immer wieder Saif für das Regime gesprochen. Das Angebot, an dem Saif jetzt arbeite, so mutmaßt die "New York Times", sei ein neues Kapitel in der alten Konkurrenz zwischen den Brüdern um den Status des Kronprinzen.

Eine Palastrevolte in Tripolis? Der deutsche Libyen-Forscher Hanspeter Mattes hält das für wenig wahrscheinlich. "Saif hat keine Hausmacht", sagt der Vize-Direktor des Hamburger Giga-Instituts für Nahost-Studien. "Wenn jemand wirklich eine Revolte innerhalb des Systems anzetteln wollte, dann bräuchte er dafür Truppen, und die hat Muatassim." Es sei also kaum anzunehmen, dass Saif gegen Vater und Bruder handele. Mattes: "Da versucht einer zu retten, was nicht mehr zu retten ist."

Denn dass die Initiative - falls sie denn tatsächlich in dieser Form existiert - Aussicht auf Erfolg hat, glaubt Mattes nicht. "Das wäre zu spät und zu wenig", sagt er. "Wahlen und eine Verfassung plant auch der Übergangsrat in Bengasi. Und der wird sich bei dem Blutzoll, den die Rebellen entrichtet haben, die Führungsrolle nicht mehr abnehmen lassen." Auch die Staatengemeinschaft werde kaum noch auf eine Lösung unter Leitung der Familie Gaddafi einschwenken.