Die Finanzkrise hat die Vorzeigeinsel im Atlantik an den Rand des Abgrunds gebracht. Nun wollen die Kreativen an eine Urtugend erinnern.

Manche Sprüche auf den Tischen der gut besuchten Island Bar im Zentrum von Reykjavik klingen wie Durchhalteparolen. "Reichtum ist das, was dir andere nicht wegnehmen können", steht da zum Beispiel in weißer Schrift auf braunem Holz zwischen Biergläsern und Wodkaresten. Es ist ein Zitat von Halldór Laxness, Islands einzigem Literaturnobelpreisträger. Auf anderen Tischen werden die Hoffnungen der Trinkseligen eher gezügelt: "Es ist ziemlich weit von Island bis ins Himmelreich." Der Dichter David Stefánsson soll diesen Satz im vergangenen Jahrhundert mal von sich gegeben haben.

Obwohl die feiernden Mittzwanziger und quatschenden Mittvierzigerinnen dieses Abends die Weisheiten ihrer verblichenen Volksdenker standhaft ignorieren, treffen Laxness und Stefánsson direkt in die geschundene Seele des modernen Isländers. Zweieinhalb Jahre nach dem Finanzcrash, der drei große Geldinstitute, Dutzende Firmen und Tausende Kleinanleger mit in den wirtschaftlichen Abgrund riss, haben sich die Inselbewohner im äußersten Nordwesten Europas weder regenerieren können, noch haben sie ihre Lehren gezogen.

Anfang 2011 präsentiert sich Reportern wie Reisenden ein grüblerisches Volk zwischen Hoffen und Banken, zwischen neuen Werten und alten Marotten. Das legendäre Uns-kann-keiner-was-Image der Isländer scheint ruiniert. "RIP RVK" hat jemand mit Edding auf einen der beleuchteten Stadtpläne in der Innenstadt gekritzelt und noch einen hinaufschwebenden Geist danebengemalt. Die Entschlüsselung des Buchstaben-Codes: Ruhe in Frieden, Reykjavik.

Das scheint nun wieder ein wenig übertrieben, denn natürlich pulsiert die Hauptstadt noch. Der Baustopp für das gewaltige Kongresszentrum am Hafen ist wieder aufgehoben. Der Tourismus hat durch die jetzt so günstige Krone ungekannte Ausmaße erreicht. Fluglinien wie Iceland Air bieten neue Strecken an, wie ab Juni erstmals auch die Direktverbindung Hamburg/Reykjavik. Aber - und das müssen auch von sich selbst begeisterte Wikinger-Enkel zugeben - der Herzschlag der Metropole ist schwächer geworden. 30 000 Isländer haben ihre Heimat verlassen, vor allem nach Norwegen und Dänemark.

Die erste Filiale der deutschen Bauhaus-Kette thront seit Monaten gähnend leer über Reykjavik - Eröffnung auf unbestimmt verschoben. Eine einzige Person soll darin aufpassen und auf bessere Zeiten warten, heißt es. Nicht zuletzt ist das Wort "vista" (sparen) nun auch in der Hauptstadt angekommen. Selbst in der Künstlernation Island muss nun vermehrt der Musikunterricht ausfallen.

Dabei ist es gerade die Freigeistszene, die Crash und Krise ohne Blessuren überlebt hat. Mehr noch: Einzig sie scheint jetzt in der Lage, Island die überlebenswichtigen Infusionen zu verabreichen. Wie im kleinen Plattenladen 12 Töne im Herzen Reykjaviks. Der Volksmusiker Steindór Andersen und Hilmar Örn Hilmarsson, Obergode der heidnischen Gemeinde Islands, präsentieren an einem grauen Abend mithilfe eines ausgestopften Raben und putziger Technik aus dem zweiten Jahrtausend ihr neues Album: sphärische Melodisierungen isländischer Reimgedichte aus dem Mittelalter. Klingt erst mal altmodisch, aber auch junge Bands greifen immer stärker auf die Texte ihrer Ahnen zurück. Sie erzählen von der grenzenlosen Freiheit und der tiefen Liebe zur Natur und sollen als Seelenverstärker wirken.

Ein paar Kunden lauschen dem unerwarteten Konzert, und irgendwie hat sogar das Fernsehen Wind von dem seltenen Ereignis bekommen. Hinterher, bei chilenischem Rotwein aus dem Plastikbecher, gibt Keyboarder Hilmarsson seine Einschätzung von der aktuellen Lage der Nation. "Ich habe Reykjavik in der Zeit vor der Krise kaum noch wiedererkannt", sagt er. "Die Stadt war an kollektivem Größenwahn erkrankt. Hier fuhren nur noch diese protzigen Geländewagen herum, und an ihren Lenkrädern saßen große Kinder in Dreiteilern." Die seien jetzt größtenteils wieder verschwunden, doch sehr viel habe sich nicht verändert seit dem großen Schock im schwarzen Oktober 2008. Noch immer kämpften Familien um ihr Überleben, müssten - wie in Amerika - ihre Häuser und Wohnungen verlassen, das Schulsystem werde heruntergefahren, das Gesundheitssystem beschnitten, zwei Generationen müssten noch unter dem Sündenfall und den Konsequenzen der geplatzten Schuldenblasen leiden, die Krise sei definitiv nicht vorbei.

"Wir müssen unser Volk von Grund auf sanieren", ist sich Hilmarsson sicher. "Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Der muss sich an den alten isländischen Grundwerten wie Ehrlichkeit, Ritterlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz und Fairplay orientieren." Für solche Aussagen bekommt er sogar mehr Applaus als für seine eigentümlichen Kompositionen.

Gastgeber und Besitzer des Plattenladens ist Larus Johansson. Der eloquente Mann mit der Designerbrille kann nicht klagen, wenn er abends in die Kasse schaut. Seine Kunden bleiben nicht weg, sie kaufen sogar mehr Musik als früher - und zwar wieder bevorzugt die der isländischen Künstler. "Musik ist wohl etwas, auf das die Leute hier nicht verzichten wollen", kommentiert Johansson. "Sie verzichten eher auf Dinge wie Möbel. Viele Einrichtungsläden haben dicht machen müssen." Bei aller Zuversicht: Klickt er sich durch die isländischen Internet-Blogs, sei dort von geistigem Wandel kaum etwas zu lesen. "Vielleicht ist der Mensch ja doch eine selbstzerstörerische Spezies." Und der Isländer ganz besonders?

Eine Provokation, die Magnus Jonsson zu gerne aufnimmt. Sprung in den nächsten Morgen. Das heimische Publikum kennt diesen Jonsson unter dem Künstlernamen Megas. Megas - fahle Haut, fettiges Haar, gewagte Garderobe, sagenhafte Aussprache, genialer Geist - ist so etwas wie eine intellektuelle Version von Udo Lindenberg, einige nennen ihn auch den skandinavischen Zwillingsbruder von Bob Dylan. Draußen gießt es in Strömen, und Megas spricht bei einem Frühstücksbier über sein Volk und die Gestaltungskraft der Kunst.

Der Rock-Poet begann Ende der 60er-Jahre, musikalische Brandsätze von den Bühnen zu werfen, schockte die Konservativen und faszinierte die Linken. Er wollte aufräumen mit der ekelhaften Verehrung literarischer Helden, pinkelte den Protagonisten der isländischen Sagas regelmäßig ans Bein. "Ich habe von dieser Krise schon in den 70ern gesungen", sagt er. "Davon handelten all meine Lieder. Eine derart gestrickte Gesellschaft kann nur so enden. Jemand hat Island mal als Mafia-Republik bezeichnet, und das stimmt. Wir sind ein sehr kleines Volk und kennen einander zu gut. Erreicht man bestimmte Positionen, wird hier sofort die eigene Verwandtschaft und der Freundeskreis bedacht und geschützt. So ein Gebilde hält höchstens 50 Jahre. Dann muss es zwangsläufig vor die Hunde gehen. Mein einziger Job ist es jetzt, Fragezeichen in die Köpfe der Leute zu setzen."

Fragezeichen, die dazu führen sollen, dass der von Megas als regierungsfürchtig beschriebene Isländer endlich wieder sein Denken und sein Handeln reflektiert und nicht bloß all das hinnimmt, mit dem ihn die Volksvertreter konfrontieren. Natürlich ist einer wie Megas froh, dass Reykjavik inzwischen von Künstlern regiert wird, von Rebellen aus seinem Milieu. Bürgermeister ist seit Juni 2010 der Komiker und Ex-Punker Jon Gnarr, der in seinem Wahlprogramm transparente Korruption, kostenlose Handtücher in öffentlichen Bädern und einen Eisbär für den Zoo versprochen hatte. Bei aller Ironie: Auch Gnarr macht sich jetzt ans Eingemachte, und Megas glaubt, dass hinter dem neuen Bürgermeister die gleichen alten Herren stehen, die die Hauptstadt vor ihm regierten.

Mit seiner ersten Platte seit dem Zusammenbruch - sie wird im Laufe des Jahres erscheinen - will Megas aber nicht anklagen oder gar herumjammern, sondern zu Demut und Innenschau mahnen. "Es wird in den Songs nicht darum gehen, das zu beklagen, was wir verloren haben, sondern das zu schätzen, was wir behalten haben." Den freien Willen nämlich und sämtliche Talente. Klingt das nicht ein wenig nach dem Spruch von Halldór Laxness auf dem Kneipentisch?

Raus aufs Land! Es heißt, die Finanzkrise habe nur bis zur Stadtgrenze von Reykjavik gereicht. Das klingt frech, stimmt aber nicht ganz. Die Fahrt geht die Westküste hoch. An manchen Kreuzungen warnen riesige Werbetafeln. "Europa plus Island - Nein danke!" heißt einer der Slogans. Ein neuer Nationalismus macht sich gerade breit. Er war von Gier und Globalisierung vertrieben worden.

Einrichtungen wie das Landnahmemuseum im kleinen Städtchen Borgarnes pflegen diese Vaterlandsliebe. Theaterregisseur Kjartan Ragnarsson erzählt darin mit liebevollen Installationen die Besiedelung Islands vor 1200 Jahren nach. Im Shop des Museums hat er vor Jahren goldene Tafeln in einen Holzbalken geschraubt. Darauf eingraviert sind die Namen der Sponsoren, die einige Hunderttausend Kronen in den Museumsbau haben fließen lassen, Banken, Versicherungen, Möbelbauer, Brauereien. "Fast alle Firmen, die Sie auf den Schildern sehen", sagt Ragnarsson, "sind inzwischen bankrott." Immerhin kann er dabei noch lachen.

Genau wie Megas will der Regisseur mit seinen Energien das isländische Volk wachrütteln. Nicht mit dem kindlichen Charme seines Museums. Ein krachendes Bühnenstück soll Ende dieses Jahres am Nationaltheater das ganze Land an die Kraft des kreativen Geistes erinnern. Ragnarsson inszeniert die Laxness-Romanreihe "Weltlicht", mit der der spätere Nobelpreisträger schon Mitte der 30er-Jahre Gesellschaftskritik übte. Im Zentrum der Geschichte steht ein armer Poet mit reinem Herzen auf der Suche nach künstlerischer Erfüllung. Und die Moral? "Dass man selbst in den unwirtlichsten Bedingungen überdauern, die Schönheit suchen und seinen Träumen nacheifern kann. Aber in diesem Streben sollten wir nicht vergessen, Verantwortung zu übernehmen, Fragen zu stellen und nicht so tun, als würden wir bereits alles wissen", sagt der Theatermann.

Ragnarsson weiß von einem Künstlerkollegen, der so ein Sonderling ist, ein Guter im Schlechten, ein armer Poet auf einem einsamen Hof ganz weit draußen am Fuße des Gletschers Eiríksjökull. Páll Gudmundsson heißt er, ein Maler, Bildhauer, Musiker und guter Kumpel der Sängerin Björk. Er ist tatsächlich ein ziemlich verschrobener Kerl, trägt dicke Socken aus Fuchshaar, sein Atelier hat er in ein umgebautes Silo montiert. Seine größte Erfindung allerdings sind Xylofone aus Vulkangestein, Birken und Rhabarber, auf denen er mit gleich fünf Klöppeln Bach und Beethoven spielt. Gudmundsson flüchtet sich vor den Fragen und einem peitschenden Schneesturm in die winzige Kapelle neben dem Silo. "Ganz ehrlich", sagt der wortkarge Künstler, nachdem er sich die Kristalle aus dem Gesicht gestrichen hat, "ich habe hier nichts von der Krise mitbekommen. Also hat sich auch nichts für mich verändert." Er mache sich keine Sorgen um die Seele seines Landes. Mehr hat er dazu nicht zu sagen. Dann geht er wieder raus, um im schroffen Gestein nach geeigneten Rohlingen für den Meißel zu suchen.

Sieht man Gudmundsson mit seinem Hund so dahinstapfen und immer kleiner werden auf dem endlosen Feld aus Schnee und Stein, passiert man dann die hoch aufragenden Gletscher und die dicht dampfenden Felsspalten, sieht das tägliche Werden und Vergehen, wird eine Erkenntnis klarer und klarer: Eine Finanzkrise kann dieses Land nicht zerstören.