Der tschechische Rundfunk befasst sich mit der Gewalt an Sudetendeutschen - und beweist den neuen Umgang mit der Vergangenheit

Hamburg/Prag. Nach ein paar Tagen hörten die Menschen im Dorf Ocihov (Groß-Otschehau) in Nordböhmen Schüsse aus dem nahen Wald. Es war der 7. Juni 1945, als dort im Saazer Land 68 Männer umgebracht wurden. Wenige Tage zuvor war ein Trupp tschechischer Gardisten in das Dorf gekommen und hatte einige Männer festgenommen und abtransportiert.

Die Opfer waren Sudetendeutsche, viele von ihnen Mitglieder der NSDAP. An jenem Sommertag im Saazer Land rief man Männer herbei, um die Toten in zwei Massengräbern zu beerdigen. Enteignungen und auch Massaker wie in Ocihov waren Vergeltung für die Verbrechen des Naziregimes, das auch die Tschechen während der Besatzung seit 1938 brutal unterdrückte. Ab Sommer 1945 wurden etwa drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Seit einigen Jahren werden in Orten im deutsch-tschechischen Grenzgebiet immer wieder Massengräber entdeckt. Die Zahl der Opfer liegt nach Schätzungen von Historikern zwischen 20 000 und 30 000 Menschen.

Mit der Gewalt an den Sudetendeutschen befasst sich der Tschechische Rundfunk seit gestern in einer Serie von Sendungen. Und es ist kein Zufall, dass er jetzt ein großes Publikum mit den Verbrechen an den Sudetendeutschen konfrontiert. In den vergangenen Jahren gibt es immer mehr Berichte über die sogenannten wilden Vertreibungen - und über den Protest einiger Tschechen gegen diese Berichte. Trotzdem: Eine junge Generation löst mit neuer Offenheit einen jahrzehntelangen Streit zwischen Tschechen und Deutschen ab. "Es ist erstaunlich, wie viele junge Menschen ihre Abschlussarbeiten an der Universität über die Phase der Vertreibung schreiben. Das ist nicht mehr nur Sache ältere Regionalhistoriker", sagt die Historikerin Christiane Brenner vom Collegium Carolinum in München dem Abendblatt.

Kriminologen erforschen im Dorf Dobronin zwischen Prag und Brünn derzeit ein weiteres Massengrab. Bewohner stellten zum Gedenken an die Toten ein weißes Holzkreuz auf. Es ist ein einfaches Zeichen einer neuen Zeit. Eine Zeit, in der die Tschechen die Vertreibung nicht mehr nur als Abschub bezeichneten. Als das Land 2004 der EU beitrat, wurde es von Österreich, aber auch Deutschland beim Thema Sudetendeutsche scharf attackiert. "Die tschechische Politik reagierte entsprechend emotional", sagt Brenner. "Diese Spannungen haben sich gelegt." Im November feierte der Kinofilm "Habermann" Premiere. Eine Geschichte über die Vertreibung der Sudetendeutschen - und eine Koproduktion von Tschechen, Deutschen und Österreichern.

Beweis für diese kooperative Vergangenheitsbewältigung war auch der historische Besuch von Horst Seehofer in Prag kurz vor Weihnachten. Mit Seehofer, der sich selbst als Anwalt und Schirmherr der Sudetendeutschen bezeichnet, war erstmals ein bayerischer Ministerpräsident Gast der Tschechen. Dabei war auch Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Zwar verlor man über die Vertreibung der Sudetendeutschen kein Wort. Aber die Delegation einigte sich mit Tschechiens Premier Petr Necas über den gemeinsamen Ausbau von Schienen und Straßen zwischen Bayern und Tschechien. Politischer Pragmatismus siegte über den emotionalen Streit.