Marine Le Pen ist neue Parteichefin des rechtsradikalen Front National

Tours. Wenn man den Bahnhof von Tours verlässt, liegt McDonalds links. Die Fast-Food-Kette nutzt französische Dichter als Werbeträger. Vom Plakat grüßt Baudelaire: "Nie das Zartgefühl verletzten. Im Zartgefühl eines jeden liegt dessen Genie."

Die Vereinnahmung des Bürgerschrecks durch die Burger-Bräter ist ein Symbol für eine Welt, in der einiges durcheinandergeraten ist und das Baudelaire-Zitat zudem ein treffliches Motto für den Kongress einer Bewegung, die selten durch Zartgefühl auffällt. In Tours tagte am Wochenende der rechtsextreme Front National und wählte erwartungsgemäß Marine Le Pen, die 42 Jahre alte Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, zur neuen Vorsitzenden. Mit 67,65 Prozent der Stimmen setzte sie sich klar gegen ihren Rivalen Bruno Gollnisch durch, der 32,25 Prozent erhielt. Gollnisch gratulierte der Siegerin brav und versprach, der Bewegung weiter zu dienen.

Das Ergebnis der Abstimmung war am Freitag durchgesickert, wurde aber erst gestern bekannt gegeben. Den Spannungsverlust kompensierten die 2000 Delegierten am Sonnabend, indem sie sich von ihrem nunmehr "Ehrenvorsitzenden" Jean-Marie Le Pen zum letzten Mal die Welt erklären ließen. Le Pen resümierte sein 60-jähriges politisches Wirken. Er zeichnete das Bild eines Frankreichs der "Dekadenz" und des "Niedergangs". Er beklagte Jahrzehnte der "Laschheit" und des "Hasses auf die Nation". Früher seien die Wirtschaft erfolgreich und die Kirchen noch voll gewesen. In der Schule habe man sich der glorreichen Geschichte der französischen Könige gewidmet. Heute streiche man Napoleon und Ludwig XIV. aus dem Lehrplan und befasse sich mit "afrikanischen Reichen des 16. und 17. Jahrhunderts". Wer derartige Verfallserscheinungen zu verantworten hat, ist für Le Pen klar. Je länger man ihm zuhört, desto diffuser wird die Liste der Schuldigen jedoch. Es kommen vor: das "supranationale Babylon" namens Brüssel, "Marxismus", "Ultraliberalismus", außerdem eine unkontrollierte "Zuwanderung" und die "masochistische Toleranz", mit der man es in Frankreich Muslimen erleichtere, das abendländische Wertefundament abzutragen. Ärgerlich findet Le Pen senior auch, dass die "männliche Gesellschaft des Wehrdienstes" von einem Trend bedrängt werde, in dem es zunehmend schicklich sei, "Gefühle zu zeigen." Dies habe es den "Heulsusen" in den Medien erleichtert, ihn immer wieder wegen angeblicher verbaler "Ausfälle" zu verteufeln - wie jenem, die Gaskammern, seien lediglich "ein Detail der Geschichte" gewesen.

Nun sei es Zeit für eine neue Ära, sagte Le Pen am Ende seiner Rede. Zum Abschied des Seniorchefs sang eine dunkelhäutige Sängerin aus Madagaskar namens Isabelle ein Pop-Liedchen mit dem Titel, "Wir sind stolz, Franzosen zu sein." Das war nicht unbedingt ein Beleg der Überlegenheit französischer Zivilisation, rührte aber die 2000 Delegierten. Trotz einiger robust gebauter Parteimitglieder mit rasierten Schläfen wirkt die Mehrzahl der FN-Mitglieder weniger bedrohlich als eingeschüchtert von einer Welt, die es ihnen zunehmend schwer macht, sich in ihr zurechtzufinden.

Dem Anschein nach ist das durchschnittliche männliche FN-Mitglied circa Mitte 60, 1,70 Meter groß und 84 Kilos schwer und hat einen zu hohen Cholesterinspiegel. Keine zehn Prozent der Delegierten sind jünger als die neue Vorsitzende. Es wird keine leichte Aufgabe, dieser deprimiert wirkenden Truppe Schwung zu verleihen, auch wenn Umfragen suggerieren, dass rund 28 Prozent der Franzosen mit den Zielen des Front übereinstimmen.

Marine Le Pen trauen dennoch manche zu, bei den Präsidentschaftswahlen 2012 den Erfolg ihres Vaters aus dem Jahr 2002 zu wiederholen, als dieser es in die zweite Runde schaffte. Sie will die Bewegung modernisieren und öffnen, "patriotische Linke" wie "soziale Rechte" hinter sich scharen. Die amerikanische "Tea Party" gilt ihr als inspirierendes Beispiel, denn diese sei "aus dem Volke" entstanden.

In ihrer Antrittsrede als Parteivorsitzende bot sie eine Serie von Variationen auf jene Themen, die ihr Vater am Vortag und in den vergangenen 40 Jahren angestimmt hatte. "Europa ist kein Kalifat. Frankreich ist kein Kalifat", sagte Marine Le Pen beispielsweise. Sie verwahrte sich auch gegen die "Verramschung unserer Kultur". Dabei war nicht ganz klar, ob sie den Playback-Liedbeitrag vom Vortag meinte oder vielleicht die McDonalds-Reklame in Tours, die neben Baudelaire auch ein hübsches Balzac-Zitat bietet: "Es gibt zwei Arten von Dummheit. Eine, die schweigt, und eine, die spricht. Die Dummheit, die schweigt, ist erträglich."