Experte: USA sind kein optimistisches Land mehr

Hamburg/Washington. Im kleinen Ostküstenstaat Vermont öffnete das erste Wahllokal bereits um fünf Uhr Ortszeit - es war der Startschuss für die "midterm elections", die Kongress- und Gouverneurswahlen in den USA zur Halbzeit der Legislaturperiode. In Erwartung einer schweren Niederlage seiner Demokratischen Partei warnte US-Präsident Barack Obama die Bürger vor einer "sehr schwierigen" wirtschaftlichen Lage, falls sie ihre Meinung änderten - also die Republikanische Partei wählten. Denn diese könnte dann seine Reformpolitik blockieren.

Gewählt wurden gestern alle 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses, 37 von 100 Senatoren und 37 Gouverneure, die mit Ministerpräsidenten von Bundesländern vergleichbar sind. Angesichts der Frustration von Millionen Amerikanern über die dramatische Wirtschaftsentwicklung, die viele Bürger Obama anlasten, wurde damit gerechnet, dass die Republikaner die 2008 verlorene Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückerobern - dazu benötigen sie 40 weitere Sitze -, und auch im Senat, wo sie zehn Sitze zurückliegen, fast einen Gleichstand erzielen.

Ein Sieg der Republikanischen Partei bedeute zunächst, "dass sich das Klima weiter verschärft - sowohl gesellschaftlich als auch politisch", sagte der Hamburger Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Professor Dr. Christian Hacke. "Es bedeutet auch, dass wir uns zunehmend von dem Gedanken verabschieden müssen, dass Amerika ein optimistisches Land ist." Angesichts von fast vier Millionen Zwangsversteigerungen von Häusern und zehn Prozent Arbeitslosen seien die USA in tiefe Selbstzweifel versunken und gespalten über die Frage, wie man da wieder herauskommt, sagte der USA-Experte dem Abendblatt. "Obama und die Demokraten sagen, wir müssen selbstkritisch die Dinge anpacken. Das wird dauern - wir müssen unsere Technologie verbessern, international wettbewerbsfähig werden und Amerika auf Vordermann bringen.

Obama sieht den unangenehmen Realitäten ins Auge - während die Republikaner und insbesondere die ,Tea Party'-Bewegung auf Ressentiments, Hass, Neid und Rassismus setzten - und damit die schlimmsten Traditionen in der amerikanischen Geschichte wieder beleben. Diese Polarisierung bedeutet, dass eine fortschrittliche Gesetzgebung, wie sie Obama versucht, noch schwieriger wird." Es könne zwar durchaus sein, dass die Amerikaner in zwei Jahren aufwachen und Obama mit überwältigender Mehrheit wiederwählen. "Es kann aber auch sein, dass es andersherum ausgeht und das Land weiter versinkt - und das wäre fatal."

Hacke, Autor eines Standardwerkes über die US-Außenpolitik, rechnet nicht damit, dass Obama künftig mit verstärkten außenpolitischen Initiativen auftrumpfen werde. "Das wird die Amerikaner wenig interessieren; die Außenpolitik spielte im Wahlkampf überhaupt keine Rolle. Weder Republikaner noch Demokraten haben ein Interesse daran, die Kriege im Irak und Afghanistan zum Thema zu machen."