Frankreichkenner Götze über die Widerständigkeit der Franzosen

Frankreichs Gewerkschaften geben nicht auf. Gestern, am Tag nach der Verabschiedung der Rentenreform im Parlament, fiel wegen der Streiks ein Drittel der Flüge am Pariser Flughafen Charles de Gaulle aus, am Flughafen Orly musste die Hälfte der Flüge abgesagt werden. Einige Zugverbindungen wurden gestrichen. Obwohl die Streiks in den Raffinerien nachgelassen haben, ist in manchen Orten immer noch das Benzin knapp. Für den 6. November ist ein weiterer Streiktag angekündigt.

Mit Staunen gucken gerade die Deutschen auf ihre Nachbarn. Während die Rente mit 67 in Deutschland zähneknirschend geschluckt wurde, prophezeit die Zeitung "Le Monde" für Frankreich "ein gesellschaftliches Grundrauschen, das noch einige Wochen andauern könnte".

Karl-Heinz Götze, der als Professor an der Universität Aix-en-Provence deutsche Literatur und Zivilisation lehrt, lebt seit Wochen mit Demonstrationen und Benzinknappheit. Aber er kann sich die Hintergründe des Unmuts erklären. "Das französische System ist relativ wenig reformflexibel", sagt er. "Die Leute haben den Eindruck, dass die Reformen von einer weit entfernten, gesichtslosen Bürokratie in Paris gemacht werden, von Technokraten. Vermittlungsinstanzen wie bei uns in Deutschland gibt es fast nicht."

Natürlich wissen auch die Franzosen, dass eine Rentenreform demografisch notwendig wird. Und Frankreichs Rentenkassen fehlen 32 Milliarden Euro - jede Regierung hätte da reagieren müssen. Die jetzige Rentenreform aber, die das Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre erhöht, stieß in Umfragen bei zwei Dritteln der Franzosen auf Ablehnung. Geringverdiener arbeiten schon jetzt bis 65, um die volle Rente zu bekommen, nach der Reform müssten sie bis 67 arbeiten. Gerade für die sozial Schwachen mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit ist es schwer, auf die verlangten 41,5 Beitragsjahre zu kommen. Die Arbeitslosenzahlen - sie stiegen seit 2009 auf 10,1 Prozent - stimmen die Franzosen nicht optimistisch.

"Es wird als zutiefst ungerecht empfunden, dass man zwei Jahre länger arbeiten muss und dass mehr Beitragsjahre für die volle Rente nötig sein werden, während Frankreich auf der anderen Seite das Land mit der dritthöchsten Zahl von Millionären ist", sagt Karl-Heinz Götze. Der Kern des Unmuts liege aber tiefer, sagt Götze, der sich in seinem neuen Buch "Süßes Frankreich? Mythen des französischen Alltags" (S. Fischer Verlag) mit Traditionen und Identität der Franzosen befasst.

Der Staat gelte als Garant und Regulator für das Gemeinwohl. Nicolas Sarkozy aber stehe nicht für Ausgleich und Augenmaß, sondern fürs Kungeln. Sein Arbeitsminister Eric Woerth, der die Rentenreform durchgesetzt hat, geriet schon im Sommer in Verdacht, er habe eine rechtswidrige Spende von der reichsten Frau Frankreichs, der L'Oréal-Erbin Liliane Bettencourt, für die Partei UMP angenommen.

Der Grund für die oft langen und radikalen Proteste liegt nach Götzes Beobachtung auch im Fehlen einer Konsens- und Verhandlungskultur, die in Deutschland unter anderem die Sozialpartnerschaft hervorbrachte. Trotz ihres militanten Auftretens sind Frankreichs Gewerkschaften wesentlich schwächer als die deutschen. Deshalb gehöre das Druckmittel des Massenstreiks und der Demonstration auch zukünftig zur Normalität. Daniel Cohn-Bendit sagte es so: "In Frankreich gibt es zwei politische Öffentlichkeiten - das Parlament und die Straße."