Früher wollten sie Edelnutten und Mafiosi werden, heute drängen sie in die Beamtenstuben

Moskau. Russlands Jugend orientiert sich um in ihren Berufswünschen. Nach dem Mafioso und dem "Bisnismen", dem Geschäftsmann, gewinnt gegenwärtig der Posten eines Staatsbediensteten immer mehr an Popularität. Er verspricht, was die Mehrheit der russischen Jugend will: Sicherheit, Aufstiegschancen und schnellen Reichtum.

Als Soziologen zu Beginn der 90er-Jahre russische Schüler der oberen Klassen nach ihren Berufswünschen befragten, waren sie schockiert. Während die Jungen von einer aufregenden und einträglichen Zukunft als Mafiosi träumten, galt es unter den Mädchen als schick, sich sein künftiges Leben als Edelprostituierte vorzustellen.

Als sich später im Jahrzehnt die Wirtschaft stabilisierte, stieg auch die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften in der freien Wirtschaft. Bildung wurde wieder zu einem wichtigen Gut bei der Karriereplanung. Die Absolventen erkannten indes schnell, dass das Klima in der freien Wirtschaft sehr rau sein kann. Als alles durch Öl und Gas geschmiert wie von selbst lief, waren die Posten sicher und die Bezüge hoch. Doch in der Krise brachen die Gehälter ein, Jobs verschwanden. In dieser Situation richtete sich der Blick der Nachwuchskader auf die weitverzweigte russische Bürokratie. Die Zahl der Interessenten, die sich nach einem bequemen Platz im Staatsdienst sehnen, steigt mit jedem Jahr. Einer Umfrage zufolge wollen inzwischen 42 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Staatsdienst eintreten. So ist es kaum verwunderlich, dass ein Studium des Verwaltungswesens bei jungen Leuten besonders beliebt ist.

"Die Jugend zieht es in jene Bereiche, wo ihrer Meinung nach großes Geld garantiert leicht verdient werden kann", meint Pawel Salin vom Zentrum für politische Konjunktur. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre seien die Bezüge der Staatsbediensteten deutlich gestiegen und lägen heute erheblich über jenen von Angestellten in der freien Wirtschaft. So auch in Rjasan: Vor der Krise galten in der Privatwirtschaft 25 000 Rubel (640 Euro) im Monat als gutes Gehalt. Mit der Krise fielen die Monatsbezüge auf 20 000 Rubel, Sonntagsarbeit eingeschlossen. Derweil tragen qualifizierte Mitarbeiter der Regionalregierung zwischen 40 000 und 45 000 Rubel nach Hause. Ein gutes Argument, sich dem Staatsdienst zuzuwenden.

Es gibt allerdings ein noch besseres: die Korruption. Seit der Zarenzeit betrachten russische Beamte ihren Dienst auch als Quelle zusätzlicher Einkünfte. Dies Phänomen hat heute erschreckende Ausmaße angenommen. Die Organisation Anwälte für Menschenrechte hat festgestellt, dass die für Bestechung aufgewendeten Mittel jährlich der Hälfte des russischen Bruttoinlandsprodukts (2009: 1,2 Billionen Dollar) entsprechen. 90 Prozent aller Leistungen, zu denen die Staatsdiener eigentlich verpflichtet sind, gibt es nur nach Zahlung von Bestechungsgeldern.

Zudem hat der Staatsdienst noch eine andere angenehme Nebenwirkung. Von den Amtsstuben aus ist der Sprung in die Parlamente der Städte, Regionen oder sogar in die Staatsduma nach Moskau leichter. In den Volksvertretungen wird dann richtig verdient, wie die Forbes-Liste der reichsten Staatsbediensteten und Parlamentarier belegt. Nach dem Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, dessen Gattin es zur Dollar-Milliardärin gebracht hat, werden die nächsten zehn Plätze von Duma-Abgeordneten und Mitgliedern des Föderationsrats belegt, von denen der "Ärmste" für 2009 ein Familieneinkommen von immerhin 19 Millionen Euro angab.