Moskauer Gericht verurteilt Aussteller wegen antireligiöser Hetze. Künstler befürchten Rückfall in eine umfassende Zensur

Berlin. Als das Urteil verkündet wurde, war das Gerichtsgebäude plötzlich voller Kakerlaken. Tausende von vier bis fünf Zentimeter großen Schaben krabbelten die Treppen hoch und runter. Die Künstlergruppe "Woina" (Krieg) hatte die etwa 3500 Tiere eingeschmuggelt und im Gericht freigelassen, als Protest gegen den "Kakerlakenprozess". Doch auch zivilisiertere Einwände blieben an diesem letzten Prozesstag erfolglos: Der Kurator Andrej Jerofejew und der ehemalige Direktor des Sacharow-Museums Juri Samodurow wurden gestern für schuldig befunden. Mit ihrer Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" haben sie nach dem Spruch des Gerichts zu "religiösem Hass" aufgestachelt und müssen jeweils Geldstrafen von umgerechnet etwa 4000 und 5000 Euro zahlen.

Der Prozess hätten ein noch viel düstereres Ende für die Künstler nehmen können: Die Staatsanwaltschaft hatte als Strafe drei Jahre Straflager gefordert. Ein solches Urteil hätte bedeutet, dass zum ersten Mal seit Sowjetzeiten wieder jemand für die Kunst ins Gefängnis kommt. Zwar konnte dieser Skandal verhindert werden. Doch die Tatsche, dass die Angeklagten nicht freigesprochen wurden, macht Menschenrechtlern und Künstlern in Russland Sorge. Die Entscheidung sei "ein Schlag für die internationale Reputation Russlands", sagte der Schriftsteller Grigorij Tschartischwili. Russland werde damit den Ländern im Nahen Osten gleichgestellt, wo Menschen für Karikaturen über Religion verfolgt würden.

Die Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" im Moskauer Sacharow-Museum zeigte 2007 Kunstwerke, die im Vorjahr Opfer der inneren Zensur russischer Museen und Galerien geworden waren. Über den Inhalt der Werke wurden die Besucher vorab durch Handzettel informiert, Kinder unter 16 durften die Räume der Ausstellung nicht betreten. Ursprünglich hatten die Kuratoren ein Langzeitprojekt mit jährlichen Schauen geplant. Doch schon jener erste Versuch löste eine Empörungswelle aus. Vertreter der nationalistisch-orthodoxen Bewegungen "Volkskonzil" und "Volksschutz" warfen den Organisatoren vor, die Ausstellung verletze ihre religiösen Gefühle.

Die russisch-orthodoxe Kirche hat die Ausstellung ebenfalls scharf kritisiert, weil die Künstler angeblich respektlos mit frommer Kunst umgingen. So zeigt ein Bild von Alexander Kosolapow eine Ikone aus schwarzem Kaviar in goldenem Beschlag. Auf einem anderen Bild von Michail Roschal-Fedorow hält Jesus ein rotes Spruchband aus Sowjetzeiten. Die Künstler thematisieren mit ihren Werken unter anderem das außergewöhnlich enge Verhältnis von Russlands Kirche und dem Staat. Für den größten Aufruhr sorgten Bilder von Wjatscheslaw Sawko, die Jesus mit dem Kopf von Mickymaus zeigen.

"Die Ausstellung fand nicht in einem Religions-, sondern in einem Kunstraum statt, der speziell für Experimente und Aktionen gedacht ist", argumentiert die Künstlerin Emilia Kabakowa. Sie hat mit ihrem Mann Ilja Kabakow, der zu den bedeutendsten russischen Gegenwartskünstlern gehört, einen offenen Brief zur Unterstützung von Samodurow und Jerofejew unterschrieben. Ilja Kabakow meint, dass der Fall "die obskure Tradition ähnlicher Prozesse in der Sowjetunion fortsetzt". Das aktuelle Urteil sei ein Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Zensur, meinen die Unterzeichner des Briefes.

Vor allem im Internet hat der Protest Platz gefunden. Russlands Blogger stellten umstrittene Bilder ins Netz. "Ich rufe alle auf, in den Blogs eine eigene Ausstellung ,Verbotene Kunst' zu veranstalten", schreibt der Blogger "teh_nomad". Der Gedanke fand Anklang: In den fünf Tagen vor der Urteilsverkündung fanden solche "Ausstellungen" in mehr als 800 Blogs statt.