Ein Jahr nach der Tötung seines Oberhauptes Osama Bin Laden rekrutiert das Netzwerk Nachwuchs-Terroristen im Jemen, in Somalia oder in Mali.

Hamburg. Es ist erst wenige Wochen her, dass schwere Abrissbagger ein Haus in der nordpakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad dem Erdboden gleichmachten. Selbst der Bauschutt wurde sogleich abtransportiert. Nichts an dem ehemals eindrucksvollen Anwesen sollte mehr an den früheren Besitzer erinnern - Osama Bin Laden, Mitgründer und langjähriger Chef des Terrornetzwerks al-Qaida.

In der Nacht zum 2. Mai 2011 waren amerikanische Navy Seals mit zwei Hubschraubern im Tiefflug auf pakistanisches Territorium eingedrungen, hatten in einer nur 40 Minuten dauernden Kommandoaktion Osama Bin Laden, einen seiner Söhne sowie drei weitere Bewohner des Hauses erschossen, hatten Bin Ladens Leiche auf einen US-Flugzeugträger im Arabischen Meer geflogen, wo der Körper versenkt wurde.

Das Verhältnis Pakistans zu seinem offiziellen Terrorverbündeten USA ist seitdem stark getrübt. Washington, wohl wissend, dass Teile des mächtigen pakistanischen Geheimdienstes ISI mit al-Qaida unter einer Decke stecken, hatte Islambad nicht vorher informiert. Pakistan musste sich die peinliche Frage gefallen lassen, warum es angeblich nicht wusste, dass der meistgesuchte Mann der Welt seit Jahren unweit eines ISI-Hauptquartiers lebte.

Die spektakuläre Aktion in Abbottabad, die derzeit gleich von zwei Hollywood-Regisseuren verfilmt wird, beraubte al-Qaida seiner Leitfigur, die Tausende Islamisten in aller Welt inspiriert hat. Auch etliche der Salafisten, die in deutschen Fußgängerzonen ihre Korane verteilen, bezeichnen den saudischen Terrorfürsten als Vorbild.

Doch die Zeiten, in denen Bin Laden als Feldkommandeur etwa in Afghanistan Kämpfer selber ins Gefecht gegen die Ungläubigen führte, waren ohnehin lange vorbei. Auch leitete er das global umtriebige Terrornetz nicht mehr zentral; al-Qaida entwickelte sich vielmehr zu einer Art Franchise-Unternehmen mit Osama Bin Laden als Identifikationsfigur. Um ihn selber war es einsam geworden - viele Mitglieder seiner einstigen Führungsriege sowie fast alle, die mit den von ihm inspirierten Anschlägen des 11. September 2001 zu tun hatten, sitzen in Haft oder sind tot.

Zudem hat sein offizieller Nachfolger Ayman al-Sawahiri, der seinen gelernten Beruf als Chirurg irgendwie mit der Ermordung unschuldiger Menschen in Einklang zu bringen weiß, nichts von dem Charisma seines Vorgängers. Er steht lediglich der Konkursmasse des harten Al-Qaida-Kerns vor. In ideeller Hinsicht war der Tod von "Scheich" Bin Laden für al-Qaida schon ein schwerer Schlag.

Doch die Krise der Weltwirtschaft, die viele islamische Staaten und dabei besonders ihre armen Schichten mit großer Härte getroffen hat, das Taumeln auch der westlichen Länder sowie die rüde amerikanische Drohnenkriegsführung, der in Pakistan, dem Jemen und in Afghanistan immer wieder auch Unbeteiligte zum Opfer fallen, treiben den Islamisten immer noch neue Rekruten zu. Der Jemen ist eine neue Hochburg von Al-Qaida-Kämpfern geworden, die dem militärischen Druck der USA am Hindukusch gewichen sind. Der Jemen gilt als derzeit potenziell gefährlichster Terror-Herd. Folgerichtig haben die US-Streitkräfte ihren Kampf gegen die Militanten dort beständig ausgeweitet.

In Somalia macht die äußerst brutale Al-Shabab-Miliz von sich reden, die sich im Februar offiziell al-Qaida angeschlossen hat. In Algerien, Mali und Mauretanien ist die Filiale "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" aktiv. Im Norden Nigerias tötet die al-Qaida verbundene radikalislamische Sekte Boko Haram Andersgläubige.

Al-Qaida ist heute eher eine Marke mit einem kleinen Kern um Führer Ayman al-Sawahiri. Dann gibt es offenbar unabhängig operierende Ableger wie jene im Jemen und im Maghreb und schließlich ideologisch verwandte Splittergruppen, die sich um eine Mitgliedschaft bei al-Qaida bewerben oder zumindest Bindungen zu ihr suchen.

Dass der mit gewaltigen Hoffnungen verbundene Arabische Frühling - die Ablösung langjähriger Despoten in der Region - bislang keineswegs die erhoffte Demokratisierung und schon gar keine wirtschaftliche Erholung gebracht hat, begünstigt radikale Islamisten. Am augenfälligsten ist dies in Ägypten, der arabischen Vormacht mit ihren 85 Millionen Einwohnern. Der Sturz des Dauer-Despoten Husni Mubarak führte nicht zu einem Systemwechsel; die alten Militäreliten beherrschen nach wie vor das Land und verteidigen ihre Pfründe mit Gewalt. Auch der Sieg der islamistischen Muslimbrüder bei den Wahlen lässt wenig Gutes ahnen. Zwar sind die Muslimbrüder mehrheitlich nicht so radikal wie etwa die Salafisten, die die ganze Region gesellschaftspolitisch zu den Zeiten des Propheten Mohammed zurückführen wollen. Aber ihre Feindschaft gegenüber Israel und dem Westen ist ausgeprägt genug, um Militanten ungehindert Auftrieb zu geben. Die Terrorüberfälle ägyptischer Islamisten auf israelisches Gebiet der letzten Zeit wären unter Mubarak so kaum denkbar gewesen.

Die Kommandoaktion in Abbottabad war zwar das Ende einer zehnjährigen Jagd. Sie bedeutet aber keineswegs den Tod der mörderischen Organisation al-Qaida, die zunächst den Nahen Osten und später den Rest der Welt in ein radikalislamisches Kalifat auf Basis der Scharia verwandeln will.