Breivik brüstet sich im Zeugenstand mit seinen Taten - “Raffiniertester Angriff seit dem Zweiten Weltkrieg“ - Keine Live-Übertragung der Aussagen Breiviks

Oslo. Der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik hat am Dienstag vor Gericht mit seinem Massaker an 77 Menschen im vergangen Sommer geprahlt. „Ich habe den raffiniertesten und spektakulärsten politischen Angriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg unternommen“, sagte der 33-jährige Rechtsextremist zu Beginn seiner Zeugenaussage in Oslo. Er las die Zeilen von einer vorbereiteten Erklärung ab. Die Norweger riskierten, zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land zu werden. „Wir müssen zu den Waffen greifen“, sagte er. „Ja, ich würde es wieder tun.“ Breivik hatte am Montag zu Prozessauftakt auf nicht schuldig plädiert. Er begründete seine Tat damit, er habe Norwegen vor der Einwanderung von Muslimen schützen wollen.

Zentrale Frage in dem Prozess ist, ob das Gericht ihm Schuldfähigkeit attestiert. Bei einem Schuldspruch drohen ihm bis zu 21 Jahre Haft. Danach besteht die Möglichkeit, ihn lebenslang zu verwahren, sollte von ihm eine Gefahr ausgehen. Sollte er nach Einschätzung des Gerichts nicht zurechnungsfähig sein, könnte der Mann lebenslang in der Psychiatrie untergebracht werden. Breivik hat bereits deutlich gemacht, er wolle als zurechnungsfähig erklärt werden. Er sähe damit seinen ausländerfeindlichen Kurs quasi anerkannt. Der Schulabbrecher hat gesagt, als krank und damit nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden, wäre „ein schlimmeres Schicksal als der Tod“.

Der Norweger hatte am 22. Juli 2011 im Zentrum Oslos zunächst eine Bombe gezündet. Dabei kamen acht Menschen ums Leben. Danach zog er weiter zu der rund 40 Kilometer entfernten Insel Utöya, um dort kaltblütig 69 Menschen in einem Ferienlager der Jugendorganisation der regierenden Sozialdemokraten zu erschießen. Sein jüngstes Opfer war 14. Auf die meisten seiner Opfer schoss Breivik mehrfach. Mit dem ersten Schuss streckte er sie nieder. Mit dem zweiten tötete er sie gezielt per Kopfschuss. Die Polizei brauchte damals angesichts des Chaos nach dem Bombenanschlag im Zentrum der Hauptstadt eine Stunde, bis sie zu dem Ort des Massakers vordrang. Als Polizist in Uniform verkleidet, gelang es Breivik, einige seiner Opfer aus ihren Verstecken zu locken, in dem er ihnen Hilfe versprach. Einige sprangen in Todesangst ins Wasser, wo Breivik sie erschoss.

Der Prozess hat immenses Medieninteresse hervorgerufen. Rund 800 Journalisten sind vor Ort. Mehr als 200 Anwesende verfolgten die Verhandlung in dem eigens gebauten Gerichtssaal. Etwa 700 Überlebende und Angehörige der Opfer hatten eine exklusive Videoverbindung in den Saal. Die Aussagen Breiviks wurden am Dienstag, anders als am ersten Verhandlungstag, aber nicht im norwegischen Fernsehen live übertragen. Die Richter untersagten dies, weil sie fürchten, Breivik könne den Auftritt für die Verbreitung seiner Propaganda gegen Muslime und Immigranten ausnutzen. Eine norwegische Zeitung bot ihren Online-Lesern an, alle Artikel über den Prozess per Mausklick auszublenden.

Das Verhör Breiviks soll noch die ganze Woche andauern. Der Prozess, in dem es drei Schöffen und zwei Berufsrichter gibt, ist auf zehn Wochen angesetzt. Das Gericht entließ am Morgen einen der drei ehrenamtlichen Richter. Thomas Indreboe hatte wenige Tage nach der Tat Breiviks im vergangenen Juli auf Facebook für den Mann die Todesstrafe als einzig gerechte Strafe gefordert. Der Fortgang des Prozesses dürfte dadurch aber nicht in Gefahr geraten. Das norwegische Recht keine Todesstrafe.

Vor Beginn der Verhandlung am Montag schüttelten die vier Psychiater im Saal die Hand des Angeklagten wie die eines guten Bekannten und lächeln freundlich. Sie begleiten die Verhandlung als Sachverständige und beobachten ihren Klienten weiter, um gegebenenfalls ihre Erkenntnisse zu justieren. Zwei halten ihn für unzurechnungsfähig, die anderen kommen zum gegenteiligen Ergebnis.

Um diese Frage kreiste die Diskussion seit der Veröffentlichung des zweiten Gutachtens. Doch um diese Frage geht es erst zum Schluss, wenn alles gesagt ist und die Richter sich ihre Meinung gebildet haben. Und die Vorsitzende Richterin Wenche Elisabeth Arntzen lässt keinen Zweifel daran, dass es eine Breivik-Show bei ihr nicht geben wird. "Ich erkenne das norwegische Gericht nicht an", sagt Breivik um 9.07, als Arntzen ihn fragt, ob er sich schuldig bekenne. "Sie sind mit der Schwester von Gro Harlem Brundtland befreundet", sagt er noch. Die Sozialdemokratin Brundtland war bis 1994 Ministerpräsidentin Norwegens. Daraufhin wendet sich die Richterin gleich an den Verteidiger. "Herr Lippestad, möchte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen meine Person stellen?" Der Anwalt rutscht auf seinem Stuhl herum. "Nein", druckst er und wirkt nicht übermäßig glücklich mit diesem Auftakt.

Das Wort haben dann die beiden Staatsanwälte Svein Holden und Inga Bejer Engh. In der nüchternen Sprache der Juristen listet Engh die einzelnen Toten und Verletzten des Tages auf. Jeder Name wird verlesen, jede Todesursache aus dem Obduktionsbericht genau benannt. Es dauert über eine Stunde, bis jedes Opfer erwähnt worden ist. Im Saal schluchzen die Angehörigen, in der Pause bricht ein Mädchen zusammen. Der Mann mit dem gold-braunen Schlips setzt sein Pokerface auf.

Auch als Holden seinen Lebenslauf referiert, blickt Breivik nach unten. Vier Firmen hat er gegründet, viermal ging es schief. Zeitgleich entwickelt er einen manisch wirkenden Islam-Hass, fantasiert etwas von einer "marxistisch-islamistischen" Verschwörung gegen Europa, das er wahlweise als "EUSSR" oder "Eurabia" bezeichnet. In einem YouTube-Video legt Breivik seine kruden Thesen dar und gibt den Blick in seine Gedankenwelt frei. Ob er merkt, dass er umringt von Menschen ist, die gegensätzliche Lebensentwürfe zu seinem haben? Zwei seiner Verteidiger sind etwa so alt wie Breivik, die beiden Staatsanwälte nur ein paar Jahre älter. Sie repräsentieren genau das junge moderne Norwegen, das er als Vernichtungsziel auserkoren hatte. Es bleibt im Dunkeln, ob Breivik seine Situation überhaupt reflektieren kann. Gefühle immerhin kann er zeigen - wenn es um ihn geht. Als Holden das Video zeigt, greift sich der Angeklagte an die Augen und weint, offenkundig ergriffen von seinem zwölfminütigen Propagandafilmchen, in dem 99 Bilder gezeigt werden. Svenn Torgesen ist ein erfahrener Rechtspsychiater und meint, dass Breivik aus Selbstmitleid heult. "Das ist ein klares Zeichen für einen unglaublich großen Egoismus. Als er die Namen der Getöteten hört, bleibt er ganz ruhig, aber als sein Film gezeigt wird, wird er weich und schwach", sagt Torgesen der Internetausgabe der "Aftenposten".

Dafür halten die Beobachter im Saal die Luft an, als etwa Staatsanwalt Holden die Videos aus den Überwachungskameras im Regierungsviertel zeigt. Sie zeigen, wie Breivik mit dem weißen Lieferwagen vor dem Gebäude Høyblokka vorfährt und direkt am Eingang parkt. Knapp eine Tonne Sprengstoff hat er im Auto versteckt, eine sieben Minuten lang brennende Lunte soll die Bombe in die Luft jagen. In aller Ruhe geht Breivik in seiner Polizeiuniform zu seinem Fluchtwagen, den er vorher ein paar Straßen entfernt geparkt hat. Die Kameras laufen weiter.

Sie zeigen Passanten, die am Auto vorbeilaufen. Ein Motorradfahrer, der aus der Tiefgarage nebenan herausfährt. Autos, Spaziergänger, Menschen, die am Auto vorbei ins Gebäude gehen. Noch drei Minuten. Noch eine Minute. Man möchte sie instinktiv warnen, ihnen etwas zurufen. Es ist kaum auszuhalten. Als ein Mann gerade auf der Höhe des Wagens in das Regierungsgebäude hineingeht, explodiert die Bombe. Sie lässt vom Auto nichts mehr übrig.

Wie beim Anruf der jungen Frau auf Utøya, der im Folgenden abgespielt wird, wirkt die Ausweglosigkeit der Situation, der unbedingte Vernichtungswille Breiviks bedrückend - und manchmal auch bizarr, wenn etwa seine Anrufe von der Insel bei der Polizei eingespielt werden. Zweimal ruft er von seinem Mobiltelefon an, angeblich um sich zu stellen. "Hier ist Kommandeur Breivik", meldet er sich zackig. "In welcher Einheit sind Sie denn?", fragt die Polizistin so verblüfft wie arglos zurück. "Das ist ein Zusammenschluss von Kämpfern gegen die Islamisierung von Norwegen und den kulturellen Marxismus", sagt er. "Ähem, ach so", meint die Polizistin nur, die zu diesem Zeitpunkt annehmen muss, einen Spinner in der Leitung zu haben. Doch Breivik hat da schon Dutzende Menschen ermordet, die meisten mit mehr als drei Schüssen, vielen schoss er direkt ins Gesicht.

In 31 Verhören, die 37 Stunden dauerten und 1137 Protokollseiten füllten, haben Staatsanwaltschaft und Polizei Breiviks Motivlage abzuklären versucht. Am Ende des ersten Prozesstages spricht sein Anwalt Geir Lippestad. "Er hat in Notwehr gehandelt und erklärt sich für nicht schuldig", sagt er. Lippestad äußert Verständnis für den Wunsch der Angehörigen, den Breivik-Äußerungen nicht allzu viel Raum zu geben. Doch es sei das "Menschenrecht des Angeklagten, sich zu erklären", so der Anwalt. Ab heute will Breivik die Gründe für seine Morde darlegen. Dies soll fünf Tage dauern, immer von 9.30 bis 16 Uhr.

Das sagt die deutsche Presse zum Breivik-Prozess

"Frankfurter Rundschau“: Die Richter haben Breivik und den Medien verweigert, was beide übereinstimmend kaum verhüllt begehrten – die Umwidmung des Strafverfahrens in einen Sensationsprozess und die mediale Metamorphose Breiviks vom Massenmörder zum Diskursteilnehmer. Hätte das Gericht gestattet, die Aussage Breiviks tagelang live im Fernsehen auszustrahlen, hätte das den ultimativen Triumph Breiviks bedeutet, die postmortale Verhöhnung seiner 77 Opfer.

"Westfälische Rundschau“: Kein Anzeichen von Reue, kein Funken Mitgefühl, und die Tränen, die er vergießt, gelten ihm selbst: Anders Behring Breivik steht vor Gericht und lässt die Hinterbliebenen der 77 Toten wie die überlebenden Opfer des Massakers noch einmal durch die Hölle gehen. Die Schilderung des unfassbaren Geschehens aus Sicht der Anklage hat die Angehörigen aufgewühlt, allen Schmerz, alles Leid wieder wachgerufen. Die kommenden Prozesstage, in denen der rechtsextremistische Attentäter seine abscheuliche Selbstinszenierung fortführen kann, werden für die Trauernden und die vielfach Traumatisierten kaum zu ertragen sein. Das Verfahren ist für sie eine Zumutung und dennoch unverzichtbar. Wirklich zu verstehen wird wohl niemals sein, wie es zu den Anschlägen von Oslo und Utöya kommen konnte. Die Hintergründe aber, die eine so unfassbare Tat hervorgebracht haben, müssen gründlich beleuchtet werden. Nur so kann das Land in Zukunft seine Menschen besser schützen und sich gegen Anschläge auf seine Freiheit wappnen. Die Auslegung darf nicht Breivik selbst überlassen sein. Er will nicht als unzurechnungsfähig begutachtet werden, sondern stilisiert sich als Retter des Abendlandes. Er rühmt sich seiner Taten und bekennt sich nicht schuldig. Er deklariert sie als Notwehr und will dennoch nicht als Wahnsinniger gelten. Breiviks Schuldfähigkeit wird den Prozess beschäftigen. Ebenso steht die Frage der Einzeltäterschaft im Raum. Eine klassische Terrorzelle hat nach allem, was die Ermittler wissen, nicht existiert. Doch Verbindungen zu Rechtspopulisten in Norwegen, zu Neonazis in anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland, sind aufgetaucht. Das Internet ist voll von der rechtsextremen Ideologie, die Breivik in seinem Pamphlet verbreitet hat; islamfeindliche Hetze wird hierzulande in Bestsellern vermarktet, Multikulturalität zum Schimpfwort. Der Prozess rückt auch die geistigen Brandstifter ins Bild und wirft die Frage nach ihrer Verantwortung auf.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung“: Der Rechtsstaat bewährt sich darin, dass er jedes noch so ungeheuere Verbrechen in seine hergebrachten Kategorien zwingt. Norwegen verweigert dem Massenmörder von Oslo und Utoya somit gerade das, worauf es dieser am meisten angelegt hat: Es gibt keinen Sonderstatus für den Mann, der als Einzelner das größte Verbrechen in der neueren Geschichte des Landes begangen hat und der sich mit wahnsinnigen Argumenten gerade einen Sonderstatus herbeireden wollte und offenbar noch immer will. Dass zwei gegensätzliche Gutachten über den Geisteszustand des Angeklagten vorliegen, hat die Verantwortung für die Entscheidung über den Schuldspruch wieder in die Hände des Gerichts gelegt; hätten Psychiater das letzte Wort gehabt, so wäre den Opfern nicht wirklich Gerechtigkeit widerfahren.

"Kölner Stadt-Anzeiger“: Hätte das Gericht gestattet, die Aussage Breiviks tagelang live im Fernsehen auszustrahlen, hätte das den ultimativen Triumph Breiviks bedeutet, die postmortale Verhöhnung seiner 77 Opfer. Wer gehört und gesehen hat, wie Breivik zum Auftakt des Prozesses gelassen vor den Kameras und in die Mikrofone seine Morde als Notwehr beschrieb, der musste spüren, dass dem Beobachter hier nicht die Rolle als interessierter Bürger, als Teil der Öffentlichkeit zugewiesen wurde, sondern als Voyeur eines abscheulichen Spektakels.

Mit Material von dpa, rtr und dapd