Letten streiten um ihre Geschichte. Zusammenstöße am Gedenktag für ehemalige SS-Legionäre befürchtet

Riga. Der alte Mann hebt seinen Zeigefinger. "Der 16. März ist kein Fest! Er ist ein Tag der Erinnerung." So ist es zumindest von den Legionären geplant. "Ein Tag der Erinnerung an unsere Gefallenen." Er will am Freiheitsdenkmal auch diesmal eine weiße Rose niederlegen. Aber heute wird in Riga die Hölle los sein. Im Internet sind Petitionen platziert: Der Gedenkmarsch soll "gestoppt" werden. Gegendemonstranten haben sich angekündigt. Die deutsche, scharf linke Internetseite "Indymedia" schreibt, warum. Sie schreit es förmlich heraus: Die "EKELHAFTE lettische Waffen-SS" wolle aufmarschieren. 1200 Polizisten sollen Zusammenstöße verhindern.

Es hat eine Weile gedauert, bis wir den alten Mann gefunden haben. Er wohnt etwas außerhalb. Nein, zu Hause wolle er keinen Besuch empfangen, sagt er. Stattdessen schlägt er "neutrales Territorium" vor: das Militärmuseum am alten Pulverturm in der Altstadt. Der alte Mann aus der Legion hat noch viele deutsche Begriffe parat, selbst Abkürzungen, zum Beispiel diese: HKL. In voller Länge: "Hauptkampflinie". Dort, wo im Krieg geschossen wird.

Edgars Skreija heißt der Mann. Er ist nervös, hält sich an einem Jackenknopf fest. Fotografieren? Nein, lieber nicht. Blaue Augen, hohe Stirn, eine markante Nase. Das graue, strähnige, immer noch dichte Haar trägt er zurückgekämmt. Er muss früher gut ausgesehen haben. Ein kräftiger Bauernsohn. Damals lebte die Familie 15 Kilometer jenseits der Stadtgrenze. Ein Hof mit allem, was dazugehört: zehn Kühe, zehn Pferde, Getreide, 30 Hektar. Edgars war das älteste von drei Kindern. Er ging zur Schule und machte danach einen Lehrgang als Automechaniker.

Er kann nicht genau beschreiben, wie er den Kriegsbeginn hier erlebte, was er fühlte. Das war im Sommer 1940. Er war auf dem Schulweg, als er den ersten sowjetischen Panzer sah. "Der Nachbar kommt mit dem Panzer, was kann da schon fröhlich sein?" Aber die Skreijas hatten Glück. Niemand wurde deportiert, niemand verhaftet. Die Familie konnte weiterwirtschaften, auch wenn aus lettischen über Nacht Sowjetbürger geworden waren.

Der Hitler-Stalin-Pakt hatte die baltischen Staaten Moskau zugeschlagen. Doch bald brach Hitler sein Wort. 1941 rollten Panzer der Wehrmacht durch die Straßen. Edgars strahlt: "Ein schöner, fröhlicher, heller Tag. Für die Letten." Hat er die Deutschen als Befreier gesehen? "Bestimmt! Als Befreier von dieser Mordregierung." Die Sowjets hatten schlechte Erinnerungen hinterlassen. Sie hatten Zehntausende Letten bei Nacht und Nebel nach Sibirien deportiert und eine Marionettenregierung installiert.

Jetzt herrschten die Deutschen. Aus Litauen, Lettland, Estland wurde das "Reichskommissariat Ostland". Der Oberpräsident von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse, wurde sozusagen im Nebenberuf Reichskommissar in Riga. Das brachte wieder einige Änderungen in der Stadt. Die Juden von Riga wurden ins Getto gesperrt. Schon Ende 1941 waren sie ganz weg. Edgars Skreija, haben Sie das Getto gesehen? Ja, sagt Skreija, da war Stacheldraht.

Im Mai, Juni 1943 war es so weit: Edgars, der Bauernsohn, durfte sich stolz Automechaniker nennen. Zunächst arbeitete er weiter auf dem elterlichen Hof. Im August dann die Einberufung. Was war das für den jungen Edgars? Ein schöner, fröhlicher Tag? Der alte Herr Skreija zuckt mit den Schultern. "Man musste." Ging es darum, Lettland zu verteidigen? "Ja klar, niemand ging, um etwas anderes zu tun." Zwei Wochen Ausbildung. Dann brauchte das Bataillon einen Chauffeur. Die Wahl fiel auf Edgars, den Automechaniker. "Ich habe immer den Kommandeur gefahren, einen lettischen Oberst." Das Bataillon bildete Kanonenfutter aus. Bis, ja bis die Russen einbrachen. Solche Tage vergisst man nicht: Es war der 25. Juni 1944. "Sie kamen als Keil, von Süden her."

Jetzt wurde Edgars' Bataillon der 19. Division eingegliedert, der "19. Waffen-Grenadier-Division der SS", einer der zwei aus Letten gebildeten Divisionen. Sie bekamen, Edgars Skreija erinnert sich genau, den Adler mit dem Hakenkreuz an den Ärmel und die SS-Runen auf den Kragenspiegel. Unter dem Adler war noch Platz für die lettische Fahne: Rot-Weiß-Rot. Irgendwann kam noch eine Sonne als Abzeichen hinzu.

Es wurde Herbst. Die Rote Armee stand vor den Toren Ostpreußens. Die Einheit stand jetzt in Kurland. "Wer die Chance hatte, eine Fähre zu nehmen, der schaffte es nach Deutschland. Wer nicht, war im Kurlandkessel gefangen. Wie ich. Wir kämpften weiter."

Ja, geschossen hat er auch, der Edgars. Aber war das nicht alles sinnlos? War nicht schon alles vorbei? "Was kann das schon für ein Gefühl sein, an der Front. Man macht, was man muss. Am 8. Mai waren wir im Einsatz. Es war ein Tag wie jeder andere. Dann kam der Befehl, um 14 Uhr alles zu beenden. Nach 14 Uhr kamen die ersten Russen in unsere Stellung. Sie stahlen unser Brot. Sie hatten drei Tage lang kein Brot gesehen, sagten sie."

Edgars Skreija hätte es schlimmer erwischen können: Er musste ein paar Jahre in Russland Bauarbeiten verrichten. Dann kehrte er zurück - nach Lettland, in eine Sowjetrepublik. Bis zur Rente war er Busfahrer. "Man musste weiterleben. Wir waren Menschen zweiter Sorte, wir wurden als Faschisten beschimpft. Wer nicht Kommunist war, der war Faschist." Seit Lettland wieder unabhängig ist, ist Skreija Vorsitzender eines Veteranenverbands. Auf eines legt Herr Skreija Wert: "Wir lettischen Legionäre, wir waren doch nicht SS-Männer. Wir waren Grenadiere."

Inzwischen ist der Streit um dieGeschichte zur Haupt- und Staatsaktion geworden. Der Film "The Latvian Legion", gedreht mit Unterstützung der Soros-Stiftung und des Verteidigungsministeriums in Riga, vermittelt eine Ahnung davon, warum diese Geschichte nicht vergehen will. Lettland habe im Krieg "ein Drittel der Bevölkerung" verloren, heißt es dort. 80 000 verloren ihr Leben unter der deutschen Besatzung, in erster Linie Juden. Weitere 80 000 fielen in einer deutschen oder sowjetischen Uniform. 130 000 flohen in den Westen, noch mehr wurden ins Innere der Sowjetunion deportiert.

Doch die Mehrheit der weit mehr als 100 000 Legionäre, so glauben viele in Lettland, hatte mit den Verbrechen des Sonderkommandos nichts zu tun. Die Divisionen entstanden 1943, als fast alle Juden Lettlands bereits ermordet waren. Staatspräsident Andris Berzins sagte jetzt, es sei "verrückt, die Legionäre als Verbrecher zu bezeichnen". Der russische Botschafter in Riga sagte: Die Worte des Präsidenten zielten darauf ab, die Waffen-SS-Leute "zu rehabilitieren und zu preisen".

Das Rigaer Rathaus, in dem ein ethnischer Russe Oberbürgermeister ist, erließ für den 16. März zunächst ein totales Demonstrationsverbot. Doch die Veteranen und ihre Kritiker haben dagegen geklagt. Airis Rikveilis, Sprecher des lettischen Verteidigungsministeriums, fleht um Verständnis. "Wissen Sie, was das Dilemma unseres Landes ist? Wir haben einfach keine anderen Veteranen, die wir heute ehren könnten. Wir hatten im Krieg nur die SS-Divisionen. Und die Rote Armee."