Die Deutsche Christine Hasse hatte die Protestaktion organisiert. Im Rhônetal gibt es mit 14 Reaktoren die größte Kernkraftdichte in Europa.

Hamburg. Mehr als 60.000 Atomkraftgegner haben am Sonntag eine Menschenkette durch das französische Rhônetal gebildet – Frankreichs bisher größte Demonstration gegen Atomkraft überhaupt. Die Beteiligung an der Protestaktion zwischen den Städten Lyon und Avignon sei historisch hoch gewesen, gaben Greenpeace und die Atomausstiegs-Bewegung „Sortir du nucléaire“ stolz zu Protokoll. Und das Ganze verdanken sie einem deutschen Import, ausgelöst durch eine Deutsche: Christine Hasse. Mit diesem Erfolg habe sie nie gerechnet, sagt sie selbst im Abendblatt-Interview.

Die 54jährige Krankengymnastin, die im Departement Ardeche in Südfrankreich eine Praxis für chinesische Akupunktur betreibt, ist seit ihrem 16. Lebensjahr in der Umweltbewegung aktiv. Geboren in Berlin, gründete sie gleich nach dem Abitur 1976 zusammen mit Eva Quistorp eine Frauen-Ökologiegruppe in Berlin, zog dann nach Bremen, war auf Anti-Atom-Demonstrationen in Kalkar und Gorleben dabei. 2010 heiratete sie einen französischen Landwirt und lebt seither in dem kleinen Dorf Gilhac et Bruzac zwischen Valence und Montelimar. Und 30 Kilometer entfernt vom nächsten Atomkraftwerk.

In ihrer neuen Heimat stellte sie fest, „dass es eine Bürger-Initiativen-Kultur wie bei uns in Deutschland nicht gibt“, sagt sie. Zwar hat auch Frankreich seine Umweltverbände und Grünen, „aber die meisten lokalen Gruppen sind als Vereine organisiert mit Vorständen, und alles geht sehr hierarchisch zu.“ Sehr beeindruckt war sie, als sie am 24. April 2010 von der Menschenkette zwischen den Reaktoren in Brunsbüttel, Brokdorf und Krümmel hörte, an der in ihrer alten Heimat 120.000 Menschen teilnahmen. In Frankreich schien so etwas unmöglich zu sein: Dort gibt es mit 58 Reaktoren so viele Atommeiler wie sonst nirgends in Europa. Frankreichs Energiepolitik setzt ganz auf Atomstrom.

Demonstrationen in Brokdorf zum Fukushima-Jahrestag

Im März 2011, nach der Atomkatastrophe von Fukushima, machte sich Christine Hasse große Sorgen um Freunde in Japan. „Und ich dachte, diese Energie muss ich nutzen“, sagt sie. Im Versammlungssaal eines örtlichen Campingplatzes organisierte sie das erste Treffen für Menschen, die wie sie einen Ausstieg aus der Atomenergie in Frankreich erreichen wollen. Am 24. März 2011 fanden sich dort 15 besorgte Bürger/innen ein und einigten sich auf das Ziel, eine Menschenkette im Rhonetal zu organisieren. Dort gibt es mit insgesamt 14 Reaktoren die die größte Kernkraftdichte in Europa.

„Zuerst haben alle gesagt: Du hast ja Recht, aber das funktioniert hier nicht“, erinnert sie sich. „Aber wir sind es einfach angegangen, sind geeignete Strecken zwischen Lyon und Avignon abgefahren und haben uns dann als Strecke für die Nationalstraße Route 7 entschieden. Die Konkurrenzstrecke, Route D86, hat zu viele Kurven und wäre zu gefährlich gewesen.“ Die Hartnäckigkeit der kleinen Gruppe machte sich bezahlt. Im April wurde die Lokalgruppe Drôme/Ardèche der „Sortir nucléaire“ als Partner gewonnen, im November die nationale „Reseau Sortir nucléaire“, im Februar 2012 stieß Greenpeace Frankreich dazu.

Zu den Vorbereitungen gehörtenauch Gespräche mit den örtlichen Polizeipräfekturen. „Ich habe sogar um eine Kiste Champagner gewettet, dass sie aus Sicherheitsgründen die Route 7 sperren würden“, sagt Christine Hasse. „Aber die Wette habe ich verloren. Ich erinnere mich heute noch an die Antwort eins leitenden Polizisten: ‚Madame, in Deutschland würde man eine Straße für eine Demonstration sperren – in Frankreich würde man die Demonstration verbieten.’“

Unterstützt wurde sie mit ihrer Initiative von dem Aktionsnetzwerk „.ausgestrahlt“ in Hamburg, das auch die Menschenkette Brunsbüttel-Krümmel organisiert hatte. Zur Mobilisierung entstand eine Homepage – „chaine humaine pour sortir du nucléaire“ –, auf der vorab schon rund 10000 Unterschriften für die Menschenkette zusammen kamen. Gerechnet hatten die Veranstalter am Sonntag deshalb mit ca. 30.000 Teilnehmern. Es wurden doppelt so viele. Auch ohne Sperrung ging alles gut: „Einige gefährliche Abschnitte hatten wir nur mit Bändern und Pappmännchen bestückt“, so Christine Hasse. „Aber wo die Menschenkette stand, haben viele Autofahrer gewunken, zustimmend gehupt und unsere Kettenbänder gekauft, um ihre Solidarität auszudrücken.“

Bis auf die Lokalpresse hatten Frankreichs Medien die Entstehung der Menschenketten-Keimzelle nicht zur Kenntnis genommen. Das änderte sich erst am 7. März 2012, eine Woche vor der Demonstration, nach einer Pressekonferenz der Initiative in Paris. „Le Monde“ brachte einen großen Artikel, „auch der Fernsehsender TS1 stieg mit einem sehr ausgewogenen Bericht ein“, sagt Hasse. Was sich die Aktivisten nie hätten träumen lassen: Am selben Abend gab es eine direkte Reaktion von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Er sprach von rein lokalem Protest – und dass er „die Atomindustrie beschützen“ werde.

Christine Hasse kann sich inzwischen vor Interview-Anfragen kaum retten. Sie und ihre Gruppe wollen weitermachen. Es hat etwas von Asterix und dem kleinen, gallischen Dorf, das sich gegen eine große Übermacht stemmt. Nur dass Asterix hier weiblich ist und Christine Hasse heißt.