USA und Israel streiten über das Ausmaß der iranischen Bedrohung und über die Zeit, die für Verhandlungen bleibt

Hamburg. Es ist ein geradezu verzweifeltes Rennen gegen die Zeit - und es steht dabei sehr viel mehr als nur das Schicksal des Nahen und Mittleren Ostens auf dem Spiel. Seit Monaten bemüht sich die amerikanische Administration von Präsident Barack Obama, die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von deren angeblich schon recht konkreten Plänen abzubringen, die Entwicklung einer iranischen Atombombe mit militärischer Gewalt zu verhindern.

In den intensiven Gesprächen zwischen Washington und Jerusalem geht es inzwischen, wie die "New York Times" berichtete, um einen Begriff, den der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak geprägt hat: die "Zone der Immunität". Der ehemalige Regierungschef, General und höchstdekorierte Soldat Israels meint damit einen Zeitpunkt, an dem das iranische Atomprogramm unverwundbar wird. Israel müsste noch vor Erreichen dieser "Zone" angreifen. Hintergrund sind die Pläne des Mullah-Regimes, den größten Teil seiner Urananreicherung in eine neue Anlage in Fordo nahe der heiligen Stadt Ghom zu verlegen. Diese Atomfabrik soll in mehr als 85 Meter Tiefe in einem Berg liegen. Das US-Militär hat eingeräumt, dass selbst ihre gewaltigsten, gut 13 Tonnen schweren Bunkerknacker vom Typ MOP ("Massive Ordnance Penetrator") dafür nicht genug Durchschlagskraft haben. Und die von den USA an Israel gelieferten Bomben sind noch deutlich schwächer.

Nach den israelischen Überlegungen ist die "Zone der Immunität" erreicht, wenn der Iran in Fordo mit der Anreicherung von Uran 235 auf einen waffenfähigen Grad von rund 90 Prozent beginnen würde - was aber Monate dauern würde. Die Regierung in Washington meinte allerdings, die israelische Sicht sei "verengt". Die Amerikaner argumentieren, dass noch Zeit für Verhandlungen und alternative Lösungen bleibe. Zwischen Obama und Netanjahu hat es bereits mehrere Telefonate in der Sache gegeben. Netanjahu verwendet Baraks Begriff vorsichtshalber nicht in der Öffentlichkeit und hat israelischen Beamten den Rat gegeben, "erst mal die Klappe zu halten".

Israels Präsident Schimon Peres wandte sich angesichts der Zuspitzung an das iranische Volk und sagte in der Knesset: "Wir sind nicht von Geburt an Feinde, und es gibt keinen Grund, als solche zu leben." Peres fügte aber hinzu, dass der Iran nicht nur eine Bedrohung für Israel sei, sondern "eine wirkliche Gefahr für die ganze Menschheit".

Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat sich dafür ausgesprochen, den Staat Israel "von der Landkarte zu löschen". Und in der vergangenen Woche bezeichnete Irans oberster Führer Ayatollah Ali Chamenei Israel als "Krebsgeschwür, das herausgeschnitten werden sollte und herausgeschnitten werden wird". Israel spricht daher von einer "existenziellen Bedrohung" des jüdischen Staates. Vor wenigen Tagen erst hatte ein hoher CIA-Beamter in Washington gesagt, der Krieg mit dem Iran sei wohl kaum noch aufzuhalten. US-Verteidigungsminister Leon Panetta soll geäußert haben, ein Angriff Israels in den kommenden Monaten sei sehr wahrscheinlich. Unklar ist allerdings, ob die Entscheidungen über den Bau einer Bombe in Teheran und über eine Luftoffensive in Jerusalem überhaupt schon gefallen sind.

Auch scheint es, als würden Geheimdienste und Militär in Israel eine weit weniger martialische Position einnehmen als die politische Führung. So hat Meir Dagan, bis Januar 2011 Chef des Geheimdienstes Mossad, einen Angriff auf den Iran als "dämliche Idee" abgelehnt, die zu einem regionalen Flächenbrand führen würde.

1981 hatte die israelische Luftwaffe den im Bau befindlichen irakischen Atomreaktor Osirak zerstört, 2007 eine entsprechende syrische Anlage. Doch der Fall Iran liegt völlig anders. Teheran hat aus der Osirak-Zerstörung gelernt und seine Atomanlagen dezentralisiert und verbunkert angelegt. Zudem verfügt der Iran über "Shahab 3"-Raketen, die Israel erreichen können. Iran vermag über seine Terrorfilialen Hamas und Hisbollah Blutbäder zu inszenieren und könnte den Ölverkehr in der Straße von Hormus zum Erliegen bringen - mit möglicherweise katastrophalen Folgen für die krisengeschüttelte EU. Als sei dies noch nicht genug, warnte ein europäischer Diplomat in Islamabad, die islamische Atommacht Pakistan hätte im Kriegsfall kaum eine andere Wahl, als Irans Vergeltungsschläge zu unterstützen.