Der neue Präsident kritisierte Gipfel-Entscheidungen hinter verschlossenen Türen
Straßburg/Brüssel. Von Rhenania Würselen in die erste Liga der europäischen Politiker war es ein langer Weg für Martin Schulz. Doch nun erhebt der SPD-Politiker und frühere Fußballer aus dem Rheinland seine kräftige Stimme im Konzert der Großen, wenn es um die Euro-Rettung und vor allem das Mitspracherecht der Abgeordneten geht. Denn Schulz ist für die kommenden zweieinhalb Jahre Präsident des Europaparlaments. Mit 387 der 670 abgegebenen Stimmen erzielte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen. Seine Gegenkandidaten, die britische Liberale Diana Wallis und ihr konservativer Landsmann Nirj Deva, kamen auf 141 und 142 Stimmen.
Weil sich Schulz die Unterstützung der Europäischen Volkspartei gesichert hatte, die mit dem Polen Jerzy Buzek den vorangegangenen Amtsinhaber stellte, galt sein Sieg als sicher. Die beiden größten Gruppen im Parlament wechseln sich innerhalb der fünfjährigen Legislaturperiode traditionell in der Amtsführung ab.
Der für seine markanten Formulierungen bekannte Schulz kündigte an, dem Parlament eine starke Stimme geben zu wollen. Die EU befinde sich in Zeiten der "Vergipfelung", in denen immer mehr Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen würden. Um anti-europäischen Ressentiments entgegenzuwirken, müsse das Parlament sichtbarer und hörbarer werden, forderte er. "Wer glaubt, man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen, dem sage ich hier und heute den Kampf an", erklärte er und kündigte an, sich auch bei Gipfeln mehr Gehör schaffen zu wollen.
Auch in der Ungarn-Frage zeigte sich Schulz entschlossen. "Wer die Rechte unserer Grundrechtecharta verletzt, muss mit Widerstand rechnen", erklärte er, sprach sich aber auch dafür aus, in der für heute geplanten Debatte den ungarischen Regierungschef Victor Orban zu Wort kommen zu lassen.
Die EU-Kommission leitete gestern rechtliche Schritte gegen Ungarn wegen Verletzung der EU-Verträge ein. Den Zorn aus Brüssel hat sich Orban mit einer Verfassungsreform zugezogen, die er mit seiner rechtspopulistischen Fidesz-Partei durchboxte. Die Reform beschneidet vor allem die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbank. In diesem Punkt ist Orban aber verhandlungsbereit, weil die EU sonst Finanzhilfe zur Abwendung der drohenden Staatspleite nicht freigibt. Zudem ist Brüssel die zeitweise Herabsetzung des Rentenalters für Justizbeamte ein Dorn im Auge. Verdacht: Orban will unliebsame Ankläger und Richter loswerden. Den Datenschutzbeauftragten hat der Regierungschef bereits abgesetzt, die Befugnisse des Nachfolgers wurden beschnitten.
(HA)