Radikale Elemente beider Völker heizen ethnischen Konflikt an. Das Flüchtlingselend wird zur humanitären Katastrophe

Hamburg/Bischkek. Angesichts der dramatisch eskalierenden Krise in Kirgistan hat das Auswärtige Amt gestern 89 Europäer und andere Ausländer aus dem Unruhegebiet ausgeflogen. Da die deutsche Botschaft in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek die einzige EU-Vertretung sei, hätten die Deutschen zum ersten Mal die Organisation einer solchen Evakuierungsaktion übernommen, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Es handele sich um 40 Europäer, 31 Amerikaner sowie Brasilianer und Südkoreaner. Noch halten sich auch um die 200 Deutsche in Kirgistan auf.

Vermutlich Hunderte Todesopfer und Tausende Verwundete haben die ethnischen Unruhen zwischen Kirgisen und Usbeken bislang gefordert, bis zu 200 000 Menschen sind auf der Flucht. Die Uno weitete ihre Hilfslieferungen aus. Das Nachbarland Usbekistan hat vor dem Ansturm seine Grenzen geschlossen, mindestens 45 000 Menschen hatten sie bis dahin bereits überschritten. Zehntausende Verzweifelte warten auf der kirgisischen Seite.

Das Hochgebirgsland Kirgistan an der Grenze zu Chinas Unruheprovinz Xinjiang wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unabhängig. Rund 15 Prozent der 5,3 Millionen Einwohner sind ethnische Usbeken. Bereits ein Jahr vor der Unabhängigkeit war es im Süden Kirgistans nach Streit um Land zu blutigen Zusammenstößen mit Hunderten Todesopfern zwischen den Volksgruppen im Süden gekommen, die zwar beide überwiegend sunnitische Muslime sind, aber ganz verschiedene Traditionen und gegensätzliche Ansprüche haben. Damals wurden die Unruhen durch das rasche Eingreifen sowjetischer Truppen beendet, die monatelang in Osch bleiben mussten, dem stärksten Unruheherd damals wie heute. Auch jetzt sieht sich Moskau wieder vor der Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, doch die russische Regierung zögert, fürchtet einen langwierigen Guerillakrieg wie in Tschetschenien.

Im Kern des Konfliktes steht das fruchtbare, 300 Kilometer lange und bis zu 110 Kilometer breite Fergana-Tal. Einst war es das Machtgebiet eines einzelnen Feudalherrn, doch der sowjetische Diktator Josef Stalin teilte es zwischen den Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan auf. Die sehr willkürliche Grenzziehung zwischen den Ethnien ließ alte Rivalitäten wieder aufflammen und legte den Samen späterer blutiger Konflikte.

Bei dem Streit zwischen den sesshaften Usbeken und den nomadisierenden Kirgisen geht es vor allem um Grund und Boden sowie politischen Einfluss. Die Usbeken, Handwerker und Bauern, sind wirtschaftlich erheblich erfolgreicher, verfügen aber kaum über Machtpositionen. Zudem dringen sie seit Jahrzehnten auf die Stärkung ihrer kulturellen Rechte und fordern, dass auch Usbekisch Amtssprache wird.

Die kirgisische Regierung in Bischkek fürchtet jedoch Forderungen auch anderer ethnischer Gruppen wie der Tadschiken. Auch könnten die Usbeken Autonomieforderungen erheben. Die Kirgisen stellen etwa 65 Prozent der Bevölkerung, die Usbeken knapp 15 Prozent; sie sind jedoch im Süden stark vertreten. Die ethnischen Russen sind mit 12,5 Prozent drittstärkste Bevölkerungsgruppe. Hinzu kommen Tataren, Ukrainer, Tadschiken, Dunganen, Uiguren und andere.

Auslöser der jüngsten Unruhen waren offenbar zunächst belanglose Streitigkeiten in Osch, der zweitgrößten Stadt, und im Ort Dschalalabad. Sie eskalierten rasch zu Straßenschlachten und regelrechten Pogromen mit Morden an Frauen und Kindern und dem Niederbrennen ganzer Straßen. Viele usbekische Opfer seien in ihren Häusern verbrannt oder erschossen worden, berichteten Augenzeugen.

Politischer Hintergrund der Spannungen ist der Zusammenbruch der autoritären Regierung des Präsidenten Kurmanbek Bakijew nach mehrtägigen blutigen Massenprotesten und Straßenkämpfen. Bakijew trat zurück und floh nach Weißrussland.

Er und seine Anhänger stehen im Verdacht, die jüngsten Unruhen angezettelt zu haben, um die Übergangsregierung unter Rosa Otunbajewa zu diskreditieren, die von vielen Usbeken unterstützt wird. Bakijews Sohn Maxim soll, wie die Regierung in Bischkek behauptet, die Anstifter mit zehn Millionen Dollar bezahlt haben. Es geht den Aufrührern auch darum, ein Verfassungsreferendum am 27. Juni und Parlamentswahlen im Oktober zu verhindern, die Kirgisien zur politischen Normalität führen sollen. Uno und EU riefen die kirgisische Regierung gestern dazu auf, an Referendum und Wahl unbedingt festzuhalten.

Inzwischen droht sich der Konflikt auf andere Landesteile Kirgisiens und auf Usbekistan auszuweiten. Auch wird die Rache radikaler usbekischer Islamisten befürchtet. "Es droht die absolute Anarchie", warnte der Zentralasien-Experte Dosym Satpajew. Zwar hätten die Spannungen schon bestanden, sagte die Politologin Ana Jelenkovic vom New Yorker Forschungsinstitut Eurasia Group, "doch nun haben sich beide Seiten radikalisiert". Die deutsche Menschenrechtlerin Andrea Berg, die tagelang in dem bereits teilweise zerstörten Osch festsaß, sprach von einer "humanitären Katastrophe", der ohne internationale Hilfe nicht beizukommen sei.