Bart De Wever gewinnt bei den Parlamentswahlen in Belgien und vertieft mit seinem Sieg die Spaltung des Landes

Hamburg/Brüssel. Bart De Wever war vor allem mit einem Ziel angetreten: Er will den belgischen Staat abschaffen. Nicht sofort, nicht durch eine Revolution, wie er vor der Wahl immer wieder gesagt hatte. Doch glaubt man De Wever, stirbt Belgien seit Jahrzehnten einen "langsamen Tod". Nun beschleunige die Wirtschaftskrise das Sterben: "Immer mehr Flamen und Wallonen erkennen, dass die Strukturen nicht mehr zu ihnen passen", hatte De Wever proklamiert. Seine Lösung: Flandern solle ein unabhängiger Staat in Europa werden, mit der zweiten großen Region Belgiens, der Wallonie, nur noch verbunden bei Fragen der Verteidigung oder Außenpolitik.

De Wever ist für die Gründung der "Republik Flandern" angetreten - und er kam damit in Flandern an. Nach ersten Hochrechnungen lag seine nationalistische Partei, die Neu-Flämische Allianz (NVA), mit rund 30 Prozent in Führung, wie der Fernsehsender VRT gestern Abend berichtete. Der Wahlsieg einer Partei, die die Unabhängigkeit Flanderns fordert, ist eine Premiere in der Geschichte Belgiens. De Wever muss nun wohl mit dem Wahlsieger in den französischsprachigen Regionen eine Regierung bilden. Dort wählten die Belgier die Partei der Sozialisten (PS) und ihren Chef Elio Di Rupo mit 32,4 Prozent zur stärksten Kraft, gefolgt von den Liberalen (MR) mit 22,5 Prozent. Entgegen De Wever war Di Rupo vor allem mit einem Ziel angetreten: die Spaltung des Landes zu verhindern.

"Schicksalswahl" - oft war in den vergangenen Wochen sowohl bei den Niederländisch sprechenden Flamen und den Französisch sprechenden Wallonen dieses Wort zu hören. Der Urnengang werde zeigen, ob beide Gruppen noch in einem Staat leben wollen.

Vor allem seine wallonischen Gegner sehen in De Wever eine Hassfigur. Fast jeden Tag betitelte ihr Sprachrohr die Untergangsszenarien mit Schlagwörtern wie "Separatismus", "Bruch" oder "Angst". Der Streit zwischen Flamen und Wallonen um die Stellung der Sprachgruppen vergiftet seit Jahren das politische Klima in Belgien - und die Chance auf eine schnelle Regierungsbildung. Das Ergebnis der vorgezogenen Neuwahlen verschärft nun die Vertrauenskrise zwischen dem Norden und dem Süden.

Wer diese Schicksalswahl der Belgier verstehen will, muss die soziale Topografie des Landes kennen. Belgien ist in drei Sprachgemeinschaften geteilt - das niederländische Flandern im Norden, die französischsprachige Wallonie im Süden, eine kleine deutsche Gemeinschaft im Osten. Das zweisprachige Brüssel gehört zu Flamen und Wallonen. Doch obwohl die Hauptstadt in Flamen liegt, sprechen die Menschen dort de facto französisch.

Doch die Sprache ist nur ein Gesicht des geteilten Belgien. Seit Jahrzehnten wachsen die regionalen Eifersüchteleien entlang des Geldes. Das wirtschaftlich stärkere Flandern subventioniert den Süden. In Flandern sind sieben Prozent arbeitslos, in der Wallonie und Brüssel sind es 17 und 21 Prozent der Menschen. Auch die Einkommen liegen dort 25 Prozent niedriger.

Es sind Konflikte, an denen der Staat nun zu zerbrechen droht. Denn auch das politische Belgien ist längst geteilt: Seit den 1970er-Jahren wurden der Föderalregierung fast alle Kompetenzen genommen. Es gibt keine landesweiten Parteien. Von den großen politischen "Familien" wie Liberalen und Sozialisten gibt es eine Partei pro Sprachgruppe. Bezeichnenderweise besitzt die flämische NVA kein Pendant. Die Regierung muss aus Flamen und Frankofonen bestehen. Der Fluchtpunkt des zerstrittenen politischen Belgien heißt "BHV". Vor allem hier, im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde, spiegelt sich der politische Stillstand, in den der Streit zwischen Flamen und frankofonen Belgiern das Land geführt hat. BHV ist der einzige Wahlkreis, in dem flämische und wallonische Parteien nebeneinander antreten.

Ein Streit, in dem De Wever mit seinem Separatismus punkten konnte. Die Gewinne seiner NVA gingen auch auf Kosten des rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Vlaams Belang, der deutlich an Stimmen verlor. Dabei hat De Wever selbst nichts mit den Rechtsradikalen gemein. Er spricht sich für "Vielfarbigkeit" der Gesellschaft aus, solange Einwanderer die Landessprache lernen und Grundwerte akzeptieren.

De Wever hat nun durchaus Chancen auf das Amt des Premiers. Obwohl seine NVA im Süden keine Schwesterpartei hat, kann sie mit 30 Sitzen in der Kammer rechnen, ein Plus von 22 Sitzen gegenüber 2007. Doch auch die Sozialisten könnten das Amt für sich beanspruchen. Fest steht: Durch den Linksruck in der Wallonie und dem Rechtsruck in Flandern dürfte die Bildung einer Regierung schwierig werden. Sie könnte sogar Monate andauern. Nicht nur in der Frage der Teilung des Landes stehen De Wever und Di Rupo in Opposition. Auch in der Wirtschaftspolitik liegen sie weit auseinander. Dabei wird in Belgien - ob Nord oder Süd - vor allem eines gebraucht: eine handlungsfähige Regierung. Die Staatsverschuldung liegt mit 330 Milliarden Euro auf einem Rekordwert in Westeuropa.