Für ein neues Leben riskierten sie alles. Ihr Boot war kaputt, sie hatten kaum noch Wasser. Zehn Schiffe fuhren an ihnen vorbei. Bis Kapitän Manfred Schander kam, er rettete 110 vietnamesische Flüchtlingeim Südchinesischen Meer. Jetzt, nach 25 Jahren, trafen sie sich wieder

Es waren die Kinderarme, die sich nach ihm ausstreckten. Dann hörte er ihre Hilferufe. Nicht nur von Kindern, auch von Frauen und Männern. Nein, das waren keine Piraten. Manfred Schander konnte nicht anders. Er musste helfen. Schließlich hatte er etwas zurückzugeben.

Kapitän Manfred Schander fährt die wichtigste Meeresroute seines Lebens noch einmal ab. Mit dem Finger. Seit 18 Jahren ist der 73-Jährige jetzt an Land, in seinem Bungalow in Rastede bei Oldenburg. Seine Frau serviert Kaffee und Kekse.

Manfred Schander wirkt nicht mehr so stämmig, so dominierend wie damals. Auf See werden Kapitäne als "Master next God" bezeichnet. Zu Hause war seine Frau die Chefin, sie zog die Kinder auf. Schander war immer ein halbes Jahr weg, auch über Weihnachten, dann zwei bis drei Monate zu Hause. Er kann leichter die Länder aufzählen, in denen er nicht war. Der Rasen vor dem Bungalow ist so tadellos getrimmt wie der Vollbart in Schanders Gesicht. Er ist ein korrekter Mann.

Seine Erinnerungen stehen auf grünen DIN-A4-Zetteln. Fotos hat er darauf geklebt, Kommentare in Großbuchstaben notiert. Auf ein Blatt hat er eine Landkarte gezeichnet. Casablanca steht da und der Fahrtbeginn: 26. September 1985. Unterschiedliche Phosphat-Sorten hatte seine "Anja Leonhardt" geladen. 162 Meter lang, 23 Meter breit, 21 000 Tonnen Ladekapazität. "War'n gutes Schiff", sagt Schander. Die übliche Fahrt durch den Suezkanal. Singapur passiert, danach Kurs 39 Grad ins Südchinesische Meer.

Die Hoffnung auf ein neues Leben war zehn Meter lang und drei Meter breit

Zur selben Zeit war im Südchinesischen Meer auch ein Fischkutter unterwegs. Zehn Meter lang, drei Meter breit, zusammengehämmert aus Holz. Das Ziel: ein neues Leben.

Bathieu Luong kauerte damals auf dem Boot. Er war 17, sein Vater war Offizier bei der südvietnamesischen Armee gewesen. Nach dem Vietnam-Krieg und der blutigen Vereinigung des Nordens mit dem Süden enteigneten die Kommunisten Luongs Familie, sperrten den Vater zwölf Jahre in ein Lager. "Entweder du lebst hier und stirbst langsam. Oder du fliehst und stirbst schnell. Oder du entkommst", sagte Bathieus Mutter. Dass damals die Hälfte aller vietnamesischen Flüchtlinge ertrank, von Piraten ermordet wurde oder auf See verdurstete, war Bathieu Luong egal. In einem Dorf 100 Kilometer südlich von Saigon sollte es losgehen.

Auch Pau Ha wollte entkommen. Vor der Machtübernahme der Kommunisten arbeitete sie als Buchhalterin in einer Bank in Saigon. Danach wurde der Reis rationiert, es gab gerade so viel, dass es zum Überleben reichte.

Pau Ha war 30, ihr Sohn Huy Hoang fünf, als sie beschlossen, zu fliehen. Mit dem Motorrad brachte sie ihr Mann an die Küste. Mit dem Versprechen, einen Tag später nachzukommen, dem Tag, für den die Schlepper den Fluchtversuch angesetzt hatten. Doch die Polizei erfuhr von der bevorstehenden Flucht, das Flüchtlingsboot musste sofort ablegen. Ohne Pau Has Mann.

Es war ein Uhr nachts am 20. Oktober 1985, als ihr Boot ablegte. Ein Ziel hatten sie nicht. Ihr Proviant war ein Fass mit 200 Liter Wasser, für über 100 Menschen. Manche hatten ungekochte Nudeln oder eine Handvoll Reiskörner dabei. Dreimal täglich gab es eine Verschlusskappe Wasser. Das Boot war leck, die Männer schöpften das Wasser aus, einige sprangen ins Wasser und versuchten die Löcher mit ihrer Kleidung zu stopfen. Als Belohnung gab es eine Kappe Wasser mehr. Und dann ging auch noch der Motor kaputt.

Vier Tage trieben sie auf dem Meer. Sie verbrannten ihre Kleidung, damit sie jemand sah. Zehn Schiffe fuhren an den Flüchtlingen vorbei. Manche sagen, es waren 20. Die Crew eines Schiffs warf ihnen sogar Essen zu, ins Salzwasser, es wurde ungenießbar. Auf dem Boot wurde Trinkwasser knapp. Es wurde still. Bathieu Luong saß tagelang nur da auf seinem Platz unter Deck. Neben ihm erbrachen sich andere. "Die Leute lagen auf dem Boden wie tote Fische", sagt Pau Ha. Viele murmelten leise Gebete, zu Gott oder Buddha. Ihre Bitte: Rettung. Oder ein schnelles Ende, wenigstens das.

Natürlich hat sich Schander die Koordinaten, an denen er Bathieu Luong und Pau Ha zum ersten Mal sah, notiert: 5 Grad, 17 Minuten nördliche Breite; 106 Grad, 57 Minuten östliche Länge.

Es war am Abend des 24. Oktober 1985, als in Schanders Kabine das Telefon klingelte. Der Wachoffizier. Er höre Hilferufe, sagte der Mann. Die "Anja Leonhardt" befand sich 260 Seemeilen südöstlich des Mekong-Deltas. Schander rannte auf die Brücke, schaute durch sein Fernglas. Das Boot, das er in der Dämmerung sah, war etwa 800 Meter entfernt. Es schaukelte.

"Ich dachte zuerst an eine Falle", sagt er. Waren das Piraten? Ihm war die philippinische Besatzung und die wertvolle Ladung anvertraut worden. Er gab den Befehl, das Boot zu umrunden.

Der Kapitän konnte nicht anders.Er hatte etwas zurückzugeben

Es waren die Kinderarme, die sich nach ihm ausstreckten. Dann hörte er ihre Hilferufe. Nicht nur von Kindern, auch von Frauen und Männern. Nein, das waren keine Piraten. Manfred Schander konnte nicht anders. Er hatte etwas zurückzugeben: Als junger Seemann fiel er über Bord, trieb eine Stunde zwischen Haifischen, bis ihn ein anderes Schiff rettete. Er überlebte die Notlandung eines Flugzeugs im Sudan. Und er blieb am Leben, als beim Beladen eines Schiffs das Förderband zusammenbrach, Trümmerteile ihn am Kopf trafen. Schander wusste: "Wenn ich sie nicht aufnehme, ertrinken sie."

Er zeigt Fotos. Auf einem Bild, es ist unscharf, sieht man das Flüchtlingsschiff. Die Flüchtlinge - manche mit nacktem Oberkörper, andere mit zerrissenen Kleidern - kauern an Deck, knien auf dem Dach des Steuerhauses, vom Schiff selbst ist kaum etwas zu sehen. Schander schätzte damals, dass höchstens 50 Menschen an Bord seien. Doch immer mehr Flüchtlinge quollen aus dem Schiffsrumpf. Schander sah die Rippen ihrer abgemagerten Körper. Sie stanken nach Diesel, der aus dem defekten Motor des Boots gelaufen war. Schander rief auf Englisch: "Wie viele seid ihr?" Keiner verstand ihn.

Über die Lotsentreppe holten sie die Flüchtlinge an Bord. Schander ließ sie über einen Strich an Deck gehen, zählte 110 Menschen, 80 Männer, 30 Frauen. Darunter 41 Kinder und Jugendliche. Schander berechnete das Durchschnittsalter: 18 Jahre.

An Bord der "Anja Leonhardt" brach Bathieu Luong zusammen. "Ich wollte laufen, aber es ging nicht mehr", sagt er. Schander gab ihm Wasser und Hühnersuppe, "die beste meines Lebens", sagt Luong. "Wer spricht Englisch?", fragte Schander. Nur eine meldete sich - eine zierliche Frau, gerade 39 Kilo schwer, sie hatte einen Jungen im Arm. Es war Pau Ha, die Buchhalterin. Sie wurde Schanders Dolmetscherin. "Alles ging sehr diszipliniert ab, sogar die Kinder waren ruhig", erinnert sich Schander. Er verfasste ein Schreiben: "An die Crew und die Flüchtlinge", versehen mit "See, 26.10. 1985". Darin bestimmte er vier Flüchtlinge zu Sprechern, um die Kommunikation sicherzustellen. Das Flüchtlingsboot machte er los, überließ es dem Meer. Erst in diesem Moment glaubten die Flüchtlinge an ihre Rettung. Sie rissen die Arme hoch und umarmten sich vor Freude.

Platz gab es auf dem Frachtschiff genug. Die "Anja Leonhardt" hatte Vorräte für mehrere Wochen geladen. Die Frauen halfen in der Kombüse, die Männer machten sauber, die Kinder schauten sich im Aufenthaltsraum Donald-Duck-Videos an. Fünf Tage waren die Flüchtlinge an Bord, der Koch gab 1905 Mahlzeiten aus, so hat es Schander notiert. Pau Ha tippte auf einer Schreibmaschine Listen. Die Namen der Flüchtlinge, wer wo Verwandte hatte, wie viele an Bord waren. 110. Später gaben sich die Flüchtlinge selbst einen Namen: Gruppe 110.

Schander telegrafierte nach Hause: "Habe 110 gerettete Vietnam Flüchtlinge an Bord Auch Babys bin froh Euer Manfred". Der korrekte Kapitän vergaß in diesem emotionalen Moment alle Rechtschreibregeln.

Um Schander zu danken, reisen Flüchtlinge aus ganz Deutschland an

25 Jahre später. Manfred Schander steigt am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug. Man hat ihn eingeladen, ein Hotelzimmer und eine Führung durch die Innenstadt organisiert. Am Eingang der katholisch-vietnamesischen Mission im Bahnhofsviertel hängt ein Plakat. Darauf steht: Gruppe 110. Aus ganz Deutschland sind ehemalige Flüchtlinge und ihre Familien angereist, um Schander zu danken, es sind um die 80 Menschen. Die Männer tragen Hemden, die Frauen Kleider, alle haben sich zurechtgemacht. Die Kinder von damals sind erwachsen geworden, die Erwachsenen von damals haben graue Haare bekommen. Als Schander kommt, klatschen sie. Alle wollen ein Foto mit Schander, ihrem "Käpt'n".

Huy Hoang tritt ans Mikrofon. 30 Jahre ist der Sohn von Pau Ha, der Buchhalterin, inzwischen. Mit fünf kam er nach München, machte Abitur, studierte, ist jetzt Informatiker. Er erzählt von der Flucht, der Rettung, und "unserem geliebten Kapitän, dem Helden in unserem Herzen". Schander schluckt. So viel Regung, wie man von einem Seemann nur erwarten kann.

Als Nächster ergreift Schander das Mikrofon. Er rekapituliert, wie er am 28. Oktober 1985 die Genehmigung erhielt, im Hafen von Manila festmachen zu dürfen und Deutschland sich bereit erklärte, die Hälfte der Flüchtlinge aufzunehmen, der Rest wurde von den USA aufgenommen.

Schander erzählt, wie er "seine" Vietnamesen am 29. Oktober verabschiedete, sie ihm ein hölzernes Heiligenbild zum Dank übergaben. In einem Uno-Flüchtlingslager auf den Philippinen lernten sie Deutsch, ein paar Monate später flog die deutsche Botschaft sie in die Bundesrepublik aus.

Es ist ihm fast peinlich, als ihm Huy Hoang ein Päckchen überreicht. Darin: eine handtellergroße silberne Medaille. Die Inschrift: "Zum Gedenken an die Rettung der Gruppe 110 am 24.10.1985. In ewiger Dankbarkeit an Kapitän Manfred Schander." Er betrachtet die Medaille von beiden Seiten. Viele der Geretteten haben Tränen in den Augen.

Auch der 42-jährige Bathieu Luong ist gekommen. Bei der Rettung hatte er nur eine Hose, heute trägt er Anzug, Brille und einen Wohlstandsbauch. Eigentlich wollte er seine Frau mitbringen. "Sie ist aber krank und deshalb zu Hause geblieben." Zu Hause ist Berlin.

Bathieu Luong wohnt heute in Berlin,in einem Haus mit Garten

"Mich hat ein deutsches Schiff gerettet. Ich wollte in das Land meines Retters", sagt Luong. Es wurde Westberlin. Im Oktober 1986 bezog er seine erste Wohnung. "Es war schwierig, die Sprache, alles." Er fand sich zurecht: Bei den Berliner Verkehrsbetrieben machte er eine Ausbildung zum Energieelektroniker, eine Firma übernahm ihn. Seine Nachbarn brachten ihm bei, mit Messer und Gabel zu essen, er zeigte ihnen, wie man Stäbchen benutzt. Dann kam der Mauerfall: Luong feierte auf dem Ku'damm, begrüßte die Ostberliner. "Wir haben die ganze Nacht gefeiert, zusammen Cola und Bier getrunken. Ich habe mich gefragt: Warum funktioniert das hier und in Vietnam nicht?"

Auf einer Geschäftsreise lernte er seine Frau kennen, sie ist auch eine Vietnamesin. Ihre Tochter Tam ist acht Jahre alt. In dem Berliner Außenbezirk Rudow hat sich die Familie ein altes Haus mit Garten gekauft.

Es sind Geschichten wie diese, die Schander stolz machen. Dass es viele von denen, die er vor 25 Jahren aus dem Meer zog, geschafft haben. Wie Bathieu Luong, wie Pau Ha.

Ihr zweiter Sohn Bao Hoang kam kurz nach Ankunft in einem Münchner Krankenhaus auf die Welt. "Auf der Flucht wusste ich gar nicht, dass ich schwanger war. Sonst hätte ich das nie getan", sagt sie. Nach eineinhalb Monaten in Deutschland beantragte sie die Familienzusammenführung. Ihr Mann, der das Schiff verpasst hatte, kam nach, sie bekamen noch einen Sohn. Khang Hoang ist 19 und will nach Berlin, um Musik zu studieren. Pau Ha, mittlerweile 55, arbeitet am Münchner Flughafen als Verkäuferin. In Vietnam war die Familie nur noch im Urlaub. "Unsere Heimat ist Deutschland."

Das Büfett ist eröffnet. Einer der Geretteten besitzt ein Restaurant. Berge von Reis, gebratene Nudeln, Curry, Ente, Suppe werden serviert. Schander mag die vietnamesische Küche. Doch nach dem Essen verabschiedet er sich. Die Vietnamesen wollen jetzt Karaoke singen. Das ist nichts für ihn. Im Hotel notiert er in sein Tagebuch: "Sehr angenehme Wiedersehensfeier mit dankbaren Geretteten der Gruppe 110."

Ein paar Tage später in Schanders Wohnzimmer. Soeben habe er seinen Johannisbeeren im Garten einen "Pflegeschnitt" verpasst, berichtet er. Er lobt die gute Organisation des Münchner Treffens. "Pünktlich. Hervorragend." An der Wand hängt ein Foto von der "Anja Leonhardt". Und das Heiligenbild, das ihm die Flüchtlinge vor 25 Jahren geschenkt haben, der Nagel ist rostig. "Dass ich damals angehalten habe, war die wichtigste Entscheidung meines Lebens", sagt der Kapitän. Ihre Medaille hat er in ein Regal gelegt. Auch sie wollten etwas zurückgeben.