Das überharte Eingreifen gegen die Gaza-Hilfsflotte wird zum politischen Desaster für Jerusalem

Hamburg. Diesmal gab es keinen Kampf, kein Tropfen Blut floss. Die Übernahme des irischen Frachters "Rachel Corrie" - benannt nach einer US-Aktivistin, die 2003 von einem israelischen Bulldozer überrollt wurde - vor der Küste des Gazastreifens durch israelische Soldaten verlief so problemlos, als wollten beide Seiten ihre Friedfertigkeit zur Schau stellen.

Ebenso reibungslos funktionierte die Abschiebung der 19 an Bord befindlichen pro-palästinensischen Aktivisten, unter ihnen die nordirische Nobelpreisträgerin Mairead Maguire. Nun habe die ganze Welt den Unterschied sehen können zwischen einer "humanitären Flotte und einer Hass-Flotte von gewalttätigen, den Terror unterstützenden Extremisten", sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Doch "Bibi" ist intelligent genug, um zu begreifen, dass die blutige Erstürmung des türkischen Führungsschiffes "Mavi Marmara" mit sieben toten Türken am vergangenen Montag eine politische Katastrophe für Israel darstellt.

Der einzige mittelöstliche Verbündete und sogar strategische Partner Türkei zieht nun demonstrativ ins Lager der Israel-Gegner und spricht von "Hass", Partner Ägypten bricht einseitig die Absprache mit Israel über die Abriegelung des Gazastreifens, für den überlebenswichtigen Alliierten USA wird Israel zu einer politischen Belastung - und die radikalislamische Hamas sonnt sich in der Solidarität nicht nur der islamischen Welt. Auch völkerrechtlich steht Israel nicht gut da: Die Blockade des Gazastreifens und seiner 1,5 Millionen darbenden Einwohner als Reaktion auf die Entführung des israelischen Soldaten Gilat Schalit ist schwer zu rechtfertigen; und die Rechtmäßigkeit der Abfangaktion in internationalen Gewässern ist mehr als umstritten.

Warum Israels Regierung die Elitetruppe Shayetet 13 - eine der härtesten Marine-Sondereinheiten der Welt - sich schwer bewaffnet auf die "Mavi Marmara" abseilen ließ, ist rätselhaft, denn es hätte unblutigere Methoden gegeben, das Schiff lahmzulegen. Auf den unerwartet brutalen Widerstand mit Rohren und Holzlatten an Bord des Schiffes reagierte Shayetet 13 mit Kopfschüssen. Die türkische Zeitung "Hürriyet" druckte Fotos von blutenden, bewusstlosen israelischen Soldaten. Die israelischen Behörden hatten die Speicherkarte der Kamera eines Passagiers gelöscht - doch die Bilder konnten rekonstruiert werden. Zum einen sind die Fotos Beweis für die Brutalität auch seitens der "Friedensaktivisten", zum anderen aber zeigen sie, dass Shayetet 13 auf eine derartige Konfliktlage überhaupt nicht vorbereitet war. Statt Tränengas oder Gummigeschossen gab es nur scharfe Munition. Offenbar hatten weder der Auslandsgeheimdienst Mossad noch der Militärgeheimdienst Aman ausreichende Kenntnisse über die Personen und Verhältnisse an Bord - und keine Planung für eine deeskalierende Taktik.

Doch weit beunruhigender ist, dass Israel in eine Falle seiner Gegner gestürmt ist, die die Dienste hätten erkennen müssen. Die türkischen Organisatoren der Flottille werden der Nähe zu radikalen Islamisten verdächtigt; zumindest an Bord der "Mavi Marmara" gab es nicht nur Unschuldslämmer. Die Soldaten wurden nach eigener Aussage mit dem Ruf "Geht doch zurück nach Auschwitz!" empfangen. Nach dem Blutbad ist der Sympathieverlust für Israel dramatisch; Nutznießer sind jene, die die Vernichtung Israels anstreben.

Und nach dem desaströs verlaufenen Libanon-Feldzug 2006, der überhart geführten Offensive "Gegossenes Blei" im Gazastreifen 2008 mit 1400 palästinensischen Toten und der Ermordung des Hamas-Funktionärs Mahmud al-Mabhu in Dubai, bei dem die Attentäter rasch identifiziert werden konnten und Israel blamiert war, wachsen Zweifel an der Urteilsfähigkeit von Geheimdienst, Armee und Regierung. Die "New York Times" ließ durchblicken, dass US-Präsident Barack Obama und der führende US-General David Petraeus die israelische Politik als gegen die amerikanischen Interessen gerichtet empfinden. Nach dem "Mavi Marmara"-Desaster wird Israel kaum umhinkommen, die Blockade des Gazastreifens zumindest zu lockern, wenn es sich international nicht völlig isolieren will.