Berlin. Die Schuldfrage wird in Polen angesichts der tiefen Trauer über den Tod von Präsident Lech Kaczynski, dessen Frau Maria sowie der 95 weiteren Opfer vor allem aus der politischen, militärischen und geistlichen Elite des Landes noch leise gestellt - aber sie nimmt an Dringlichkeit zu. Ein technisches Versagen schließen die Ermittler aus, wenngleich die Maschine vom Typ Tupolew TU-154 bereits 20 Jahre alt war. Der ehemalige Militärflughafen Smolensk-Nord verfügt dafür nicht über ein ziviles Instrumenten-Landesystem (ILS), das eine Landung im Blindflug ermöglicht. Vollautomatische Landungen sind - obwohl heute technisch möglich - bislang nicht erlaubt. In einer von der Ausstattung des Flugzeugs und des Flughafens abhängigen Höhe muss der Pilot die Steuerung übernehmen. Aber niemand kann einen anfliegenden Piloten daran hindern, sich über all diese Regeln hinwegzusetzen.

Manche polnische Politiker monieren mit allem gebotenen Respekt vor dem trauernden Land "schwere Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften": So viele Spitzenpolitiker und Top-Militärs hätten nicht in ein und demselben Flugzeug sitzen dürfen. Verboten ist das indes nicht. Es gebe lediglich die Order, dass Präsident, Ministerpräsident und Parlamentspräsident nicht in einem Flugzeug reisen dürfen, sagt der Militär-Luftfahrtexperte Gregorz Holdanowicz. Die Tatsache aber, dass in Smolensk neun Top-Militärs, darunter der Generalstabschef sowie die Oberkommandierenden der Armee, Luftwaffe und Marine ums Leben kamen, lässt Interimspräsident Bronislaw Komorowski über Änderungen nachdenken.

Auch in Deutschland gibt es übrigens keine Regel, nach der Spitzenpolitiker nicht gemeinsam in einem Flugzeug sitzen dürften. So flogen Angela Merkel (CDU) und Horst Köhler im vergangenen Jahr gemeinsam zur Trauerfeier nach dem Amoklauf in Winnenden. Auch Bundeskanzler und Vizekanzler unterliegen bei gemeinsamen Reisen keinen Beschränkungen. Merkel und Frank-Walter Steinmeier (SPD) reisten in Zeiten der Großen Koalition regelmäßig in einem Flugzeug, und auch mit Guido Westerwelle (FDP) flog Merkel schon zum Europäischen Rat. Und ganz egal, wie hochrangig die Passagiere sind: Ob das Flugzeug bei schwierigen Bedingungen landet, entscheidet immer dessen Kommandant, also der Chefpilot.

Um dessen Rolle beim Unglück von Smolensk kreisen die meisten Spekulationen. Hat der 36 Jahre alte und mit knapp 2000 Flugstunden als erfahren geltende Pilot Arkadiusz Protasiuk wirklich im Alleingang die Kühnheit gehabt, nach drei missglückten Landeanflügen einen vierten bei weniger als 400 Meter Sichtweite zu riskieren? Sein Kopilot Robert Karol Grzywa (3500 Flugstunden) hat ihm gewiss nicht dazu geraten. Und der Tower von Nord-Smolensk hatte davor gewarnt und ein Ausweichen auf Minsk oder Moskau empfohlen.

Luftfahrtexperte Tomasz Szulc hat einen anderen Verdacht. Dem Piloten habe wahrscheinlich die "nötige Durchsetzungsfähigkeit" gefehlt, sagte er und bezog sich auf einen früheren Vorfall: Kaczynski wollte während des Georgienkrieges im Sommer 2008 seinen damaligen Piloten zur Landung in Tiflis zwingen, obwohl russischer Beschuss dies zu einem lebensgefährlichen Unterfangen machte. Der Pilot widersetzte sich der präsidialen Anordnung und landete in Aserbaidschan, worauf Kaczynski ihn wegen Befehlsverweigerung feuern ließ. Im Oktober des gleichen Jahres weigerte sich dessen Nachfolger Protasiuk wegen einer Krankheit mit antibiotischer Behandlung, Kaczynski nach Brüssel zu fliegen. Wollte er in Smolensk vermeiden, sich eine erneute Blöße zu geben? Die russische Staatsanwaltschaft leitete jedenfalls ein Ermittlungsverfahren gegen Protasiuk ein.