Für Peking ist der Dalai Lama, geistliches Oberhaupt der Tibeter, eine Art Taliban-Führer vom Dach der Welt, ein brandgefährlicher Separatist und Verbreiter einer Irrlehre.

Im Rest der Welt wird der freundliche ältere Herr als Friedensfürst hoch respektiert. Zwischen beiden Positionen gibt es keine versöhnliche Brücke, denn der Wunsch des Dalai Lama nach stärkerer Autonomie seiner Region rüttelt an der völkerrechtlich wackeligen Basis des chinesischen Machtanspruchs. Die Han-Chinesen, die Tibet 1951 gewaltsam annektierten und in der Kulturrevolution 1966-76 die uralte tibetische Hochkultur nahezu vernichteten, betreiben eine aggressive Sinisierung der Region, um unumkehrbare Fakten zu schaffen. Dem Dalai Lama, der 1959 in letzter Minute dem Terror der Roten Garden entkommen konnte, vorzuwerfen, er habe kein Recht, für die Tibeter zu sprechen, da er sein Land verlassen habe, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Noch bevor entschieden war, ob US-Präsident Barack Obama den Dalai Lama überhaupt empfangen wird, drohte Peking bereits mit schweren Schäden für die Beziehungen zu den USA.

Chinas Regierung wettert gegen eine Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten - und will dem amerikanischen Präsidenten gleichzeitig vorschreiben, wen er in seinem Amtssitz empfängt. Obama hat bereits so manches klare Zeichen gesetzt - ein Empfang des Dalai Lama im Weißen Haus wäre ein Signal der politischen Souveränität und eine Absage an alle Erpressungsversuche. Die wachsende Rivalität zwischen Adler und Drachen - zwischen der kapitalistischen Supermacht USA und der werdenden Supermacht China, einem kuriosen Hybrid aus stalinistischem Überbau und raubkapitalistischem Unterbau - ob Tibet, Taiwan, die Klimapolitik oder die Wirtschaft betreffend, wird die Sicherheitspolitik der kommenden Jahrzehnte prägen.