Gesundheitsreform stockt, Wirtschaft lahmt, Stimmung schlägt um. Die Hoffnung auf einen Neustart bleibt.

Washington. Mit populistischem Furor versucht Barack Obama, auf die Krise seiner Präsidentschaft und der demokratischen Partei zu reagieren. Ein Jahr nach seinem umjubelten Amtsantritt und zwei Tage vor seinem Rechenschaftsbericht in der "Rede zur Lage der Nation" steht Obama vor den Trümmern der Gesundheitsreform, seiner größten gesetzgeberischen Initiative. Allein kann er sie mit seinen Mehrheiten im Kongress nicht mehr durchsetzen.

Auf einer Kundgebung in Ohio gab sich Obama als Kämpfer gegen Sonderinteressen der Banken und Versicherungen und Washingtoner Misswirtschaft: "Ich verstehe, warum die Menschen dem Staat misstrauen. Wir brauchen nicht den großen Staat, sondern den klugen Staat, der mit der Privatwirtschaft gemeinsam Chancen für normale Leute schafft." Tags darauf kritisierte der Präsident in scharfer Form ein Urteil des US-Supreme-Courts, das Grenzen für politische Spenden der Wirtschaft aufhebt: "Ich kann mir nichts vorstellen, was für die öffentlichen Interessen verheerender wäre." Damit seien Politiker der Macht der Lobbyisten, zu belohnen und zu bestrafen, noch stärker ausgesetzt. Er wünsche sich einen Protest beider Parteien gegen das Urteil.

Populistische Töne empfehlen sich zumal seit dem vergangenen Dienstag. Der Sensationssieg des Republikaners Scott Brown in Massachusetts in der Nachwahl für den über Jahrzehnte von Ted Kennedy gehaltenen US-Senatssitz hatte die 60-Sitze-Mehrheit der Demokraten gekostet. Entsprechend gering ist die Neigung der Republikaner, sich nach neun Monaten zäher Beratungen doch noch an einem Kompromiss zu beteiligen. Umfragen ergeben klar, dass Wähler in dem traditionell liberalen Staat massenhaft gegen eine Politik in Washington protestierten, die nach ihrem Gefühl das Wohlergehen der Wallstreet über die Wohlfahrt von Amerikanern stellt, die um ihre Jobs und ihren Hausbesitz bangen müssen. Auch bislang der Regierung Obamas gewogene Medien und unabhängige Kolumnisten drängen Barack Obama zu einem möglichst raschen, radikalen Kurswechsel. "Reboot", wie das Neustarten eines Computers nach dem Löschen von obsoleten Daten, ist der am meisten verwandte Begriff.

Zugleich ergeht an Barack Obama, einmütig von links wie rechts, der Rat, nicht den Ausweg des Populismus zu wählen, den ihm niemand abnimmt. Der coole Harvard-Jurist und elegante Intellektuelle, der die Amerikaner im Wahlkampf mitriss und gerade in der Finanzkrise vorteilhaft neben dem hitzköpfigen John McCain wirkte, taugt nicht zum Populisten mit seinen simplen Feindbildern.

Der Bürgerzorn richtet sich nicht allein gegen die mit Steuermitteln geretteten Banken, die wieder Milliarden Dollar in Bonus-Zahlungen ausschütten. Er trifft nicht nur die privaten Versicherer, die jede Gesundheitsreform mit Spendenströmen zu verhindern suchten. Es ist vor allem der mit sich zerfallene, von Sonderinteressen korrumpierte Kongress, und zwar Demokraten wie Republikaner, den angewiderte Verachtung trifft. In Massachusetts gaben 63 Prozent der Wähler an, die Nation bewege sich in die falsche Richtung; Scott Brown vereinte Zweidrittel dieser Proteststimmen auf sich. Er gab sich als Außenseiter, der gewissermaßen mit der Mistgabel in das verdreckte, korrupte Washington zieht, um aufzuräumen. Im November 2008 errang Barack Obama im Mantel des Außenseiters 80 Prozent der Stimmen derselben zornigen Leute in Massachusetts. Nun steht er für den Status quo, der Hinterzimmerdeals mit Bankern und Gewerkschaftern nicht scheute (oder doch duldete) und Stimmenkauf von illoyalen Senatoren der Demokraten mit fetten Privilegien zuließ.

Das enorme politische Kapital des Präsidenten, der von mehr Hoffnung ins Amt getragen wurde als jeder seiner Vorgänger, wurde seiner Partei im Kongress anvertraut - die es verspielte. Nun geraten die Demokraten in Panik, weil sie mit Recht fürchten, bei den Zwischenwahlen im November bestraft zu werden. Barack Obama hat zwei Tage Zeit, seine "State of the Union"-Ansprache zu einer Ruck-Rede umzuschreiben. Sie müsste Selbstkritik mit einem neuen Aufbruch vereinen: zurück in die Arme der amerikanischen Wähler.