Über die unglaubliche Katastrophe nach dem schweren Erdbeben auf Haiti berichtet Tobias Käufer.

Das junge Mädchen ist zu schwach, um nach Hilfe zu rufen: Seine dunkle Haut ist weiß vom Staub, die schwarzen Locken grau. Bis zum Rumpf steckt das Kind in den Trümmern fest, reckt die beiden Hände in die Höhe. Minutenlang versuchen die umstehenden Helfer das traumatisierte Mädchen aus seinem Gefängnis zu befreien, doch es gelingt nicht. Nicht einmal vor Schmerz schreien kann das Kind, die Lebenskräfte entschwinden innerhalb von Minuten aus seinen Augen.

Es ist nur eine von Zehntausenden dramatischen Szenen, die sich nach dem verheerenden Erdbeben in der Hauptstadt Port-au-Prince abspielen und erahnen lassen, welche Katastrophe sich in dem Karibikstaat abspielt. "Die Leute schrien ,Jesus, Jesus' und rannten in alle Richtungen", so schildert Reuters-Reporter Joseph Guyler Delva die ersten Minuten nach dem Beben. "Es herrscht totales Chaos."

Die Passagiere eines American-Airlines-Fluges, der es gerade noch von der Insel schaffte, konnten kurz nach dem Start aus ihren Fenstern sehen, wie die Häuser unter ihnen in sich zusammenfielen. Ob der Flughafen der Hauptstadt weiterhin funktionstüchtig ist, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Die Landebahn soll noch in befahrbarem Zustand, das Flughafengebäude dagegen stark in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Doch eine funktionierende Luftbrücke wäre für die Menschen auf Haiti lebenswichtig. Flugzeuge mit mehr als 150 Tonnen Hilfsgütern haben sich bereits in Richtung Karibik in Bewegung gesetzt.

Die ersten Bilder, welche die Weltöffentlichkeit nach den Erdstößen erreichten, machten deutlich, dass die Situation vor Ort verheerend ist. Kinder in Schuluniform, die zitternd vor Schmerzen und starr vor Angst auf dem Boden liegen und auf Hilfe hoffen. Doch die Hilfe kommt nicht: Stattdessen müssen sich die Jungen und Mädchen, die gerade auf dem Nachhauseweg waren, gegenseitig helfen. Mit einer Flasche Wasser wäscht ein Schulkind einem schwer verletzten Mädchen das Blut aus den Wunden. Es sind erschütternde Bilder.

Staatliche Hilfskräfte gibt es nicht. Der Inselstaat gilt als das ärmste Land des gesamten amerikanischen Kontinents. Korruption, Misswirtschaft und unfähige Politiker sorgten bereits vor dem Beben dafür, dass Haiti als unregierbar gilt. Die wenigen funktionierenden Strukturen wurden am Dienstag innerhalb des 60 Sekunden langen heftigen Erdstoßes, der 7,0 Punkte auf der Richterskala erreichte, endgültig zerstört. Der Präsidentenpalast, einst ein schneeweißer Prachtbau, liegt seitdem in Trümmern. Die Mauern sind eingefallen, die mächtige Kuppel ist nach unten gesackt: Es ist wohl das symbolträchtigste Bild, das nach außen dringt. Haiti ist in sich zusammengebrochen.

Selbst die gekommen sind, um zu helfen, brauchen Hilfe: Die Uno-Friedenstruppen beklagen unter den Blauhelmen zahlreiche Tote, ihre Kommandostrukturen funktionieren nicht mehr. Zumindest Präsident Préval und seine Ehefrau Elisabeth Débrosse Delatour haben die Katastrophe laut ihrem Botschafter unverletzt überstanden, weil sie sich zum Zeitpunkt des Bebens nicht im Palast, sondern in ihrem Wohnhaus befunden hatten. Sie müssen nun in dem Chaos einen kühlen Kopf behalten.

Fast stündlich kommen neue Hiobsbotschaften: Krankenhäuser, die Kathedrale, Ministerien, ein Uno-Gebäude, Schulen, Universitätsgebäude, Hotels sind eingestürzt oder schwer beschädigt. Tausende Menschen sind verschüttet. Wie viele Menschen betroffen sind, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Das Internationale Rote Kreuz wagte eine vorsichtige Schätzung: Etwa drei Millionen der neun Millionen Einwohner seien in irgendeiner Form von den Auswirkungen des Bebens betroffen. Karel Zelenka, Repräsentant der katholischen Hilfskräfte in Port-au-Prince, ließ durch eine Sprecherin erklären: "Es müssen Tausende Menschen tot sein." Auf den Straßen in Port-au-Prince herrscht das blanke Chaos: Straßenverkäufer, die auf den Bürgersteigen Gegrilltes verkauften, liegen schreiend auf dem Boden. Ihre Haut ist von den umgestürzten Grillständen verbrannt. Sie sind während der Erdstöße auf den Boden gefallen, ehe die glühendheißen Stände auf ihre Körper stürzten.

Umherirrende Menschen, die auf der Suche nach dem eigenen Haus und den darunter verschütteten Familienangehörigen sind. Von überall her dringen Schreie, doch mit jeder Stunde werden die Rufe schwächer, die Schreie leiser. Die Lebenskräfte schwinden. In der Hauptstadt selbst und in den Außenbezirken leben rund zwei Millionen Menschen überwiegend in bitterer Armut. Ihre Hütten oder kleinen Häuser stürzten nach den heftigen Erdstößen wie Streichholzschachteln einfach um. Oder sie verschwanden in dem sich öffnenden Schlund der Erde: Ein ganzer Straßenzug stürzte in eine Schlucht, riss Häuser, Autos und Menschen mit in die Tiefe. Über der Stadt hängt eine riesige Staubwolke, die auch nach einer Nacht voller Schrecken wegen der zahlreichen Nachbeben nicht weitergezogen ist. Jetzt nehmen die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand.

In einer zusammengestürzten Universität versuchen Studenten ihre Kommilitonen aus den unteren Stockwerken zu befreien, sie selbst riskieren dabei Leib und Leben, denn jederzeit können Nachbeben die Trümmer ins Rutschen bringen und die Helfer ihrerseits unter sich begraben. Fast halbstündlich sorgen ebendiese Nachbeben für neue Panik und Schrecken unter den Menschen.

Nach Messungen des seismologisch-geologischen Instituts der USA (USGS) war das Erdbeben um 16.53 Uhr Ortszeit (22.53 MEZ) mit einer Stärke von 7,0 das verheerendste in der Karibik seit 1770. Das Epizentrum lag rund 15 Kilometer westlich der Hauptstadt Port-au-Prince, der Bebenherd lag in nur zehn Kilometern Tiefe. So knapp unter der Erdoberfläche sind die Auswirkungen besonders heftig, denn die Stöße können ungebremst an die Oberfläche rasen und ihre ganze Kraft entfalten.

Unterdessen läuft die internationale Hilfe an: US-Präsident Barack Obama kündigte an, dem Inselstaat schnell und unbürokratisch zu helfen. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet erklärte, man müsse Haiti in diesen dramatischen Stunden zur Seite stehen. Venezuelas Staatspräsident Hugo Chávez versprach, die venezolanische Luftwaffe zu humanitären Einsätzen zu entsenden. US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte, die Vereinigten Staaten würden Hilfsgelder bereitstellen und Hilfskräfte entsenden: "Zunächst wollen wir so viele Informationen wie möglich sammeln." Ihr Ehemann und Ex-Präsident Bill Clinton ist Uno-Sonderbotschafter für Haiti. Auch aus Deutschland und Europa wird Geld bereitgestellt. Doch in den ersten Stunden und am ersten Tag nach der schicksalhaften Naturkatastrophe sind die Menschen auf sich allein gestellt. Es gibt keine funktionierenden Hilfskräfte, schon in der Vergangenheit hatten Wirbelstürme oder Überschwemmungen das Land ins Chaos gestürzt. Rund 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, mehr als die Hälfte sogar in extremer Armut. Nun haben die Menschen auch noch den letzten Rest an Hab und Gut verloren. Hilfsorganisationen befürchten bald den Ausbruch von Seuchen und Plünderungen. "Die medizinische Versorgung ist komplett zusammengebrochen", berichtet eine spanische Mitarbeiterin des Roten Kreuzes. "Die Situation auf den Straßen ist völlig chaotisch." Die verletzten Menschen behandeln sich selbst, versuchen die Knochenbrüche und blutenden Wunden mit dem zu behandeln, was sie in der unmittelbaren Nähe finden. Ambulanzen gibt es keine, stattdessen werden die schwer verletzten Opfer auf den Motorhauben der Fahrzeuge abgelegt, die noch einigermaßen unbeschädigt blieben. Darüber hinaus breiten sich Brände in der ganzen Stadt aus, gerissene Gasleitungen speisen die Feuer, die schnell zu Feuerwalzen anwachsen.

Dazu ist das gesamte Kommunikationsnetz auf der Insel zusammengebrochen: Ex-Haitianer versuchen verzweifelt, ihre Angehörigen in der Heimat zu erreichen, die Menschen ihrerseits vergeblich Hilfe zu rufen, die nicht kommt. Ein paar aktuelle Fotos schaffen es in die sozialen Netzwerke Facebook oder Twitter, die schnell zur wichtigsten, weil einzigen Informationsquelle werden. Der Besitzer des angesehenen Hotels Oloffson in Port-au-Prince hält den Rest der geschockten Welt via Twitter über die Ereignisse auf dem Laufenden: "Fast alle Lichter in der Stadt sind erloschen. Es schreien immer noch Leute, aber der Lärm erstirbt, während die Dunkelheit einbricht." Oloffson hatte Glück, das Hotel nicht: Das Castel Haiti sei nur noch ein Trümmerberg. Es hatte acht Stockwerke, berichtet Oloffson.