Der Himmel grau, die Luft nasskalt, die Wiese matschig vom tauenden Schnee. Das Wetter in Hamburg zum Jahresende war keines zum Draußensein. Doch in einem Park an der Altonaer Thadenstraße harrten junge Leute, Mitglieder der Öko-Organisation "Robin Wood", in zwei Baumhäusern aus, in einem kleinen Camp mit einem Feuer im Grill als einzige Wärmequelle. Eine Mahnwache sollte es sein, ein Protest nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen, für den Klimaschutz und gegen den Bau von Kohlekraftwerken.

Man kann das für müßig halten oder für Spinnerei, aber ebenso auch für praktizierte Demokratie. Es gibt bequemere Ziele, an Weihnachten dem häuslichen Tannenbaum zu entfliehen als eine zugige Baumhütte.

Die vermeintliche "Politikverdrossenheit" der Menschen in Deutschland ist ein Dauerthema in den Medien, und die Statistiken scheinen diesen Frust zu belegen. Die Volksparteien Union und SPD verlieren seit vielen Jahren Mitglieder, und die Beteiligung der Bürger bei Landtags- oder Bundestagswahlen fällt oft bedenklich gering aus. Eine neue Studie, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik während der aktuellen Wirtschaftskrise auf den niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken ist.

Allerdings haben die Meinungsforscher auch eine "extreme Bereitschaft" der Bürger ausgemacht, sich an der Gestaltung von Politik zu beteiligen - nur eben nicht in den Parteien, sondern in anderen, selbst gestalteten Formen. "Partizipation" sei das große Thema der nächsten Jahre, sagt Peter Kruse vom Bremer Unternehmen Nextpractice, das die Studie erstellt hat. Es wachse eine neue Bewegung heran, die noch stärker werden könne als die Ökologiebewegung der 80er-Jahre.

Eben jene Bewegung liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie außerparlamentarische Demokratie auch die Parlamente erreicht und wie sie damit letztlich das Land insgesamt verändern kann. Aus allen politischen Richtungen formierte sich in den 70er-Jahren die Protestbewegung, die schließlich in die Gründung der Partei Die Grünen mündete. Längst haben sich deren Politiker in den Parlamenten etabliert, sie haben etliche Landesregierungen und zwei Bundesregierungen mit gebildet; oft trugen Mitglieder der einst pazifistischen Partei schwierigste staatspolitische Entscheidungen mit wie etwa die zur deutschen Beteiligung am Nato-Einsatz gegen Serbien oder für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.

Außerparlamentarische Wurzeln hat auch der westdeutsche Teil der Linkspartei. Man muss diese Partei und ihre Inhalte nicht mögen, wohl aber anerkennen, dass sie in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge erzielt hat und zuletzt mühelos in westdeutsche Landtage einzog. Vermutlich hat der eine oder andere westdeutsche Altkommunist hier ein neues politisches Zuhause gefunden. Getragen wurde der Aufstieg der Partei in den alten Bundesländern aber vor allem von Gewerkschaftern, die sich von der SPD abgewandt hatten.

Die Zeit der Drei-Parteien-Parlamente in Deutschland ist lange vorbei. Die etablierte Politik ist bunter geworden, und das Gleiche gilt für das politische Geschehen außerhalb der Landtage und des Bundestages. Hunderttausende Schüler und Studenten demonstrierten im zurückliegenden Jahr für bessere Lern- und Studienbedingungen. Sie taten dies friedlich und fantasievoll. Für politische Krawalle, wie Deutschland sie zur Zeit der Studentenunruhen in den 60er-Jahren erlebte, existiert heutzutage kein Nährboden mehr. Die Meinungs- und Gestaltungsfreiheit, die hierzulande herrscht, findet man in kaum einem anderen Land der Welt, und dies trotz der Wirtschaftskrise und ihrer Folgen.

Diese Meinungsfreiheit ist verbunden mit einer historisch bespiellosen Wahlfreiheit in Bezug auf den eigenen Lebensstil und bei der Erziehung der Kinder. Dazu zählt auch, dass die Menschen Missständen selbst entgegentreten, bei deren Beseitigung "die Politik" vermeintlich versagt. Jeder Bürger kann selbst entscheiden, wie viel oder wie wenig er zum Klimawandel beiträgt - gescheiterte Gipfeltreffen wie jenes in Kopenhagen hin oder her. Jeder Kunde kann selbst wählen, ob er sein Geld bei einer weltweit agierenden Großbank anlegt oder beim genossenschaftlichen Institut um die Ecke. Jeder kann selbst entscheiden, ob er sich mit drei Prozent Zinsen begnügt oder sich für 15 Prozent an hoch spekulativen Anlagen beteiligt.

All diese Freiheiten gibt es, und die Menschen nutzen sie. Sie nutzen die Chance, Politik selbst zu gestalten, in Bürgerinitiativen, in Ehrenämtern und in spontanen Zusammenschlüssen, ganz klassisch mit Transparenten und ganz modern mit Kommunikationsmitteln wie dem Internet, wie Twitter oder Facebook. Diese Vielfalt bringt Deutschland voran. Wer heute von Politikverdrossenheit spricht, der kann jene Hunderttausende Freizeitpolitiker gewiss nicht meinen.